Es regnet nicht viel an diesem Abend. Doch so viel, um Charlotte von ihrem Vorhaben abzuhalten. Die Tropfen verlaufen sich zu dünnen Strichen auf der Fensterscheibe. Langsam folgen ihre Augen den Bahnen, die sie auf das Glas malen. Nach der austaxierten Zeitspanne steht sie auf und öffnet das Fenster. Kalte Regentropfen stechen ihr wie kleine Nadeln in die Haut. Ihre Gesichtsmuskeln spannen sich. Sie öffnet den Mund. Von ihrer Stirn fliessen kleine Rinnsale an den Augenbrauen entlang. Am Nasenflügel vorbei. In den Mund. Nach einiger Zeit gewinnt sie den Eindruck, dass der Regen Geschmack annimmt. Sehr sauer und merkwürdig klebrig, so scheint es ihr.
Rüde Gegenwart des Vergangenen. Sie schliesst das Fenster und setzt sich wieder in den Sessel. Beim routinemässigen Blick in den Hinterhof fällt ihr ein beleuchtetes Fenster auf, hinter dem sich narzisstisch ein Mann vor dem Spiegel entkleidet. Geschmeidig fahren seine Hände über seinen muskulösen Körper. Nähern sich seinem Geschlecht. Enthemmt onaniert der Nachbar.
Charlotte blickt auf die gegenüberliegende Wohnmaschine. Das Modell von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ scheint in diesem Stadtviertel ebenso wenig zu passen wie das Muster der „Tyrannei der Intimität“. Ihre Lebenswelt wird nicht einfach nur mit ökonomischen Imperativen durchzogen; auch umgekehrt gerät das Ökonomische zunehmend unter Einfluss lebensweltlicher Kompetenzen. Sie braucht Privatheit, um sich ohne Kontrolle durch andere als authentisches Individuum zu entdecken. Das ist ihre Voraussetzung für ein autonomes Leben, das Vermögen, so zu leben, wie Sie wirklich will.
Von Zeit zu Zeit werden in verschiedenen Wohnungen die Beleuchtungen eingeschaltet. Geschosswohnungsbau. Licht ist Sinnbild für die Energie der darin lebenden Menschen. In der gegenüberliegenden Wohnmaschine leuchtet plötzlich eine vertikale Reihe von Lichtern auf. Als sie wieder verlöscht, wird ihr klar, dass es sich um die Treppenhausbeleuchtung handelt.
Sterbendes Zwielicht. Kein Restlichtverstärker. Nur der pralle Mond lugt hinter den schwer beladenen Wolken hervor. Mit einem überhitzten Mal überkommt sie ein seltsam wohliges Gefühl. Blitzartigen Erinnerungen hingegeben. Einfach nur stundenlang dasitzen und auf unterschiedlich beleuchtete Fenster blicken. Vorhänge, hinter denen sich der Alltag und die Hitze treffen. Ein anderes Leben pulsiert. Oder verstummt. Fenster, hinter denen ein monotonblaues Licht flackert. Schau ins Land mit dem Fern–Seher. Im Sommer, bei offenem Fenster, verwandelt sich dieser Hinterhof akustisch zu einem Kaninchenstall.
Charlotte sitzt in der Dunkelheit ihrer Klause. Eine Dunkelheit, die sich nach und nach ihrer bemächtigt. Etwas Kindliches liegt in ihrem Vorhaben. Andere Menschen beobachten. Nur die Zeichen sehen. Eine Situation registrieren. Scheinbar objektiv und sinnlos. An Kriminalfilme denken…
Das Telefon schrillt. Charlotte weigert sich abzuheben. Geht in die Küche. Öffnet den Kühlschrank. Eine kleine Funzel strahlt in den Raum. Sie mixt sich einen Drink. Findet eine angebrochene Packung Zigaretten. Entflammt einen Lötkolben. Das Telefon hört auf zu läuten. Sie kehrt in ihr Arbeitszimmer zurück. Schaltet den PC an. Das grüne Licht erleuchtet den Raum. Der Abend hat sich verändert. Das klirrende Geräusch hat einen Zeitabschnitt beendet.
Hoffnungsfrohes Heute trifft abgeklärtes Morgen. Charlotte beschäftigt die Spannung zwischen der Schönheit des Einzelnen und seiner Sehnsucht, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Ihr Augenmerk gilt den Menschen in ihrer sozialen Umgebung und sie begibt sich in die kaum auszuhaltende Nähe des behutsamen Blicks. Sie beobachtet einen Rückzug aus dem Aufbegehren, das nachdenkliche Sicheinrichten im Gegebenen. Die hypermodernen Menschen bewegen sich schlafwandlerisch sicher im Fangen und Verändern von Stimmungen, harren aus in ihrem vergeblichen Wollen, ihrer Trauer, ihren Ängsten. Ein grosses Verzeihen über Unzulänglichkeit bestimmt ihr Leben. Es führt durch die sanften, verwehenden Melodien eines Abschieds von revolutionären Hoffnungen in die eigentümliche Gefangenschaft der Entsagung. Es gibt eine Art Verschwörung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft in der hypermodernen Gesellschaft. Alles wird im Namen der Zukunft getan, alle Revolutionen finden im Namen der Zukunft statt; aber die Vergangenheit hat ihre eigene Macht. In der globalisierten Welt verbirgt sich die Vergangenheit unter der Maske der Zukunft, und die Zukunft unter der Maske der Vergangenheit; und die Gegenwart wird immer geopfert um der Zukunft willen. Sie versuchen das haptische Einkaufserlebnis samt seinen sozialen Kontakten mit der neuesten Technologie zu verknüpfen.
Charlotte ist eine rastlos Suchende, die etwas finden möchte, nur keine Gewissheit; sie hält sich nicht an die Regeln, weil sie das Fiktive biographisch, das Biographische als Fiktion liest; der stete Kampf zweier Gehirnhälften um das narrative Steuerrad. Wie meist entfaltet sich ihr Fabulieren in der gleichzeitigen Reflexion dessen, was sie zeigt: in den Zwischenräumen der aneinander gefügten Bilder, in Arrangements von Bildern und Sätzen, die Fragen blosslegen und messerscharfe Paradoxien. In den Zwischenräumen, wo Skepsis und ein grosser Pessimismus herrschen, wo alles ungesichert bleibt, mit Ausnahme der schönen Behauptung, dass Bilder und Wörter nie für sich allein sprechen.
Die Zigarette schmeckt schal. Der Drink bitter. Sie kann nichts anderes tun, als ihre Ohnmacht in ein trotziges Weitermachen überführen. Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken, die Intelligenz ist das Entscheidende. Vielleicht kann sie sich damit selbst retten und auf dem Grab ihrer verloren gegangenen Idealismen ein trotziges Unkraut säen. Charlotte greift zum Drehschalter und schafft auch in ihrer Wohnung eine künstliche Atmosphäre. Geht zum Bücherregal. Platz für neue Bücher hat sie nur noch, wenn sie andere hinauswirft, und das bringt sie nicht fertig. Bildung ist Umgang mit der Tradition; aber nicht jeder Umgang mit Tradition zeugt von Bildung. Die elektronische Revolution baut die Bewusstseinsstruktur um. Das Alphabet, auf dem die alte räumliche Wahrnehmung beruht, verliert seine prägende Kraft. Jugendliche können nicht mehr in einem Buch lesen, auf dem Monitor jedoch die Zeichen decodieren. Eine Kulturtechnik geht bei einer bestimmten Generation unter. Die alte Vorstellung von Geschichte verschwindet, löst sich in Gleichzeitigkeiten auf. Als junge Frau war sie eine Handgranatenjongleurin, beleidigte ununterbrochen ihre Mitmenschen, war angefüllt mit Komplexen, mit Unsicherheit, mit Wut – weil sie verstanden hatte, dass es ewig dauern würde, bis sie so eine Wahrnehmungsfähigkeit und Genauigkeit entwickeln würde wie Hanns Henny Jahnn… Sie nimmt wahllos ein Buch heraus. Quetscht so lange daran herum, bis die Druckerschwärze auf den Teppichboden tropft.
***
Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.
Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.