„What keeps mankind alive?“, erkundigt sich die angerauhte Stimme von einer knisternden Schallplatte aus dem Lautsprecher bei dem verbliebenen Gast.
»Wat schon? Die Natur hält keinen Sinn bereit. Sie tötet jeden, der sich ihr schutzlos aussetzt. Städte sind auf Knochen gegründet«, schnoddert der gefallene Engel am Tresen verächtlich und kippt sich den nächsten Drink ohne Eiswürfel nach. Die goldenen Haare, die grossen Augen, der breite Mund – alles schreit danach, begehrt zu werden. Sie macht mit ihrer unterkühlten Nobilität mehr Effekt als mit ihrer Anmut. Hat es auch geschafft, die Bedienung unter den Tisch zu trinken. Da es in dieser Bar keine Tische gibt, hat sich der Barkeeper auf den Tresen gelegt. Er gleicht einem Wellensittich auf der Stange. Ein greises Kind, das seine Patschhändchen ängstlich zu Fäusten ballt.
Das Bat~Cave hat die besten Zeiten hinter sich, es ist eine Räucherbude, bei der die Tapeten mit Schweiss angeklebt worden sind, inzwischen bildeten sich in den Kulissen wirklich Stalagmiten. Nicht Schlafende dämmern in den Tod, sondern die Toten hoffen, sich ins Leben zurückträumen zu können.
»Mix‘ noch’n Bloody Mary!«, bestellt ein Typ von ausserordentlicher Blässe, der seinen mitternachtsblauen Smoking elegant durch den Lüftungsschacht hieft. Er strahlt jene moralische Selbstgerechtigkeit aus, die das Vorrecht ewiger Jugend ist. Es umgeben ihn priesterlicher Glamour und melancholische Eleganz. Er nimmt die Sonnenbrille ab, schaut ihr in die Augen, verliert sich in einem Blau, das der diskrete Voyeur Jan Vermeer nicht besser hätte malen können. Auf dem Grund ihrer Augäpfel liegt Entlegenes nahe, trifft Sehnsucht auf Melancholie und eine Grandezza, die völlig beschwipst ist.
»Du bist nicht von dieser Welt!«, stellt er fest, nachdem sie sich erkundet haben. Ist es nicht so, dass Verführer einander sofort erkennen?
Als sie das blutbeschmierte Taschentuch sieht, das aus der Anzugtasche lugt, geschieht eine Läuterung durch Furcht und Schrecken, und sie findet ihn tendenziell attraktiv. Aus Mitgefühl greift sie ins Regal und stellt ihm ein Glas auf die Theke. Sie sehen durch einen Spiegel das Rätsel – und nach der Scharfstellung: von Angesicht zu Angesicht. Machen sich miteinander bekannt, obwohl sie einander längst kennen. Und: erkennen einander.
»Genau wie du…«, flüstert sie ihm mit bebender Bekenntnis–Stimme zu. Ist es nicht eigentlich so, dass man nur verführen kann, wenn man bereits verführt ist!?! Sie schüttelt den Kopf, um ihn mit ihrer Mähne zu umwehen. Er versucht ihre Haarwurzeln zu greifen, geschickt entweicht sie. Zurück bleibt ein goldenes Haar auf seinem Revers. Er besieht es sich.
»Bist du etwa ein…«, ringt er mit den Worten, wägt sie auf der Zunge ab, rollt sie zwischen Gaumen und Lippen hin und her, »…ein Seraph?!?«
»Hab‘ gekündigt. Wenn der Chef etwas mitzuteilen hat, braucht er uns als Boten. Wir überbringen Nachrichten, ’ne eigene Meinung ist uns nicht gestattet«, krabetzt sie proletig daher. Nach den glockensüsslichen Weihrauchtagen hat sie die Nase endgültig voll von gesalbten Worten. Sie liebt es, sich endlich mal so zotig ausdrücken zu können, wie die Menschen, die sie seit Jahrhunderten belauscht.
»Gott gibt es also wirklich?«, ist der junge Vampyr erstaunt, wäre er nicht von Natur aus blass, er würde vollends erbleichen.
»Ich habe ihn noch nie gesehen, die sechsflügeligen Cherubim umstehen den himmlischen Thron und verbergen Ihnvor unseren Blicken; aber ich glaub‘, ich weiss, wer er ist!«, stellt sie Vermutungen an. Es ihr nicht möglich, Genaues, Gültiges über Leben und Schicksal der Menschen auszusagen. Auch wenn sie sich auf nicht manipulierte fotografische Dokumente stützt, weiss sie nicht eindeutig, was sie sieht. Die Sichtbarkeit der Welt gibt ihr nur unzureichend Auskunft über die Realität, und die digitalen Medien sind noch um etliches unzuverlässiger als der unmittelbare Augenschein.
»Na?«, wird er langsam ungeduldig.
»Pures Licht!«, wippt sie im Gleichtakt mit den Hüften und stellt Einsamkeit und Eintönigkeit ihres Lebens durch mechanische Wiederholung der immer gleichen Bewegungen dar.
»Licht?!?«, erkundigt er sich bei ihr ungläubig. Sein Hauptfeind. Er giesst nach und stürzt einen Doppelten herunter. Auch er hat ein Problem, wie alle Unsterblichen: nach einiger Zeit langweilt man sich. Und wenn man einen Vertrauten gefunden hat, stirbt der einem weg. So spannend das vielgestaltige Spiel mit den Möglichkeiten auch sein mag, irgendwann frisst die Einsamkeit die Seele auf. Auch dieser Blutsauger hat die Schnauze gestrichen voll:
»Mir macht es keinen Spass mehr, zitternden Opfern den Lebenssaft aus dem Hals zu lutschen! Das HIV versaut letztlich den Geschmack.«
Auf dieses Stichwort schenkt sie ihrem Gegenüber den nächsten Whiskey ein. Sie lächeln sich an, lassen die Gläser aneinanderklicken, vermeinen die Gerste und den Roggen zu schmecken. Er stellt das Glas auf den Tresen, betrachtet die alten Schallplatten, die in ihren zerfledderten Hüllen aussehen wie Fledermäuse. Streicht liebevoll über die Cover, nimmt eine LP heraus und legt sie auf dem Plattenteller. Zu den Klängen von „Wham Bam Thank You Ma’am“ legen sie einen Tanz hin, wohl wissend, dass dieser Reigen bereits Teil des Vorspiels ist.
»Wollen wir noch mehr Zeit verlieren?«, trällert sie sopranistisch phänomenal strahlend und gibt sich als geheimnisumranktes Zwitterwesen aus femme fatale und femme fragile, eine Mischung aus berauschendem Glamour und schriller Comic–Ästhetik, aus Las Vegas und Bilderbuch, Poesie und Vulgarität, schockierenden und verzaubernden Momenten. Er würde gerne noch ein Tänzchen hinlegen und beim stetigen Näher kommen in der Bewegung den schwülen Duft ihrer moschusgleichen Ausdünstung einatmen. Sie ist unschlüssig; zwar beobachtet sie seit Generationen die Spezies auf diesem Planeten, doch das ist auf das eigene Erleben kaum übertragbar… und zögert hinreissend.
»Unter dem Schatten deiner Flügel suche ich Zuflucht!«, beweist er mit zartem Tenortimbre, dass er sich in den Psalmen auskennt und ein smarter Schuft ist.
»Geh’n wir zu mir oder zu dir?«, erkundigt sie sich mit einem oft gehörten Standard und klimpert dazu mit den Wimpern.
»Ich dachte, Engel wohnen im Himmel?«, flapst er, um seine Schüchternheit zu verbergen. Der gefallene Engel öffnet die Tür der Bar. In dieser Nacht schillert die schwarze Seele des Weltgeistes. Sie weht ihm mit dem rechten Flügel über seine Schulter. Gemeinsam fliegen sie durch die Nacht. Er orientiert sich beim Flug an dem reflektierten Schall, während sie den Wind zum Segeln nutzt. Gemeinsam vollführen sie gewagte Loopings, kommen einander noch näher als beim Tanz, ohne sich jedoch zu berühren.
Vor den Toren der Stadt hat sich der gefallene Engel im stillgelegten Tower eines alten Flughafens einquartiert. Sie umkreisen den vom Vollmond illuminierten Turm. Aus der braun–schrundigen Elefantenhaut des Spritzputzes herausgeschält, formiert sich ein makelloser Wohnkubus. Die Begradigung der Dachlandschaft, das Vermauern der senkrechten Fensterbänder vor den Treppenhäusern, das Zusetzen der Atelierfenster bis auf kleine Löcher war mehr als eine Kontextsensibilität an die neue Nutzung. Sie hat den Tower aus einem weissen Oktogon in einen schwarzen Kubus verwandelt. Zusammen mit der Kugel als dem Urzustand zyklischer Bewegung verkörpert der Kubus das Endstadium eines Zyklus, die Unbeweglichkeit; symbolisch bedeutet er die Quadratur des Kreises. Der Kubus ist die Wahrheit, die immer die gleiche bleibt, aus welchem Winkel man sie auch betrachtet, letztendlich stellt er die Vollkommenheit dar. Schützend hält dieses Behältnis der Unbill von Wind und Wetter stand. Ein wolkiges Grau schmückt die Eingangsfassade. Diese elegante Schattierung verleiht dem Baukörper mehr Volumen. Durch unterschiedliche Bindungen changieren die Oberflächen zwischen offenporigen Flächen und speckigen Streifen. Delikat akzentuiert kräftiges Orange und dunkles Gelb die Unterseiten der vorspringenden Bauteile, die zum Dach weisen.
Durch ein Kippfenster gelangen sie ins Innere des Towers. Fein abgestimmte Pastelltöne bestimmen die Atmosphäre im Treppenhaus. Die Ausmalung ihres Schlafzimmers orientiert sich mit seiner blau–gelb–roten Gliederung an De Stijl. Sie begeben sich ohne Umschweife zum Divan. Ihr Nessel fällt zu Boden. Er pellt sich aus dem Smoking. Der Sprengstoff, den man Liebe nennt, beendet ihren Waffenstillstand. Aus den so drapierten Kleidungsstücken lässt sich eine Spur der Leidenschaft rekonstruieren. Ein Inbild selbstverliebter, gleichwohl unbeachtete Gegenüber adressierter erotischer Verzückung.
Engelsküsse schlucken Vampyrbisse. Ihre Flügel kitzeln seinen Rücken. Ein Hauch, süsser als Moschus. Leiber, weicher als Rahm. Erkundungsfahrten auf Schweissfilmen. Die Rache des Verdrängten schmeckt süss und verspricht eskapistischen Genuss ohne Reue. Die Liebenden können sich nur gegen Fremdbestimmungen wehren, wenn sie eigene Gefühle und Gedanken haben und so viel Verschiedenheit wie möglich ins Leben bringen. Versuchen, Vermittler von Unmittelbarkeit zu sein, in die Überlieferung des nie Hinreichenden. Treiben ein Spiel mit Zufall und Notwendigkeit, mehr aus Lust an der Konstruktion als aus frommem Glauben. Rütteln an den Fundamenten der Konfession, indem sie Erklärungen bieten zu dem, was in alt–ehrwürdigen Bildern beschrieben wurde. Bilder, die am Ende für die Wirklichkeit genommen werden. Erkennen das Abendmahl als nichts anderes als ein ritualisiertes Opfer, bei dem Fleisch gegessen und Blut getrunken wird. Nutzen entschlossen die Kraftfelder.
Mit Nachdruck bemüht sich die mythische Sendbotin um den melancholischen Vampyr und führt ihn in Versuchung. Ein Wispern des Behagens begleitet ihr erheiterndes Lachen. Das Feste wird zum Flüssigen, das Niedere zum Höheren, ein ewiges Geben und Nehmen. Das Schöpfungsprinzip ist die Konvertibilität der Dinge, der Umbau von all dem, was in dem Einen und Einzigen vorhanden ist. Sie sind Teil dieses Systems als lächerliche Komödianten mit ihren niederen Instinkten. Ihre Welt braucht keinen Erlöser und keine Dreifaltigkeit, ihr Prinzip ist die Bewegung, die sich in der unendlichen Vielfalt der Dinge kundgibt.
Die Vision von einem leergefegten Universum steht am Beginn einer Reise zu den Archetypen unseres Lebens. Dieser Tower ist nicht Vorhof zur Hölle und nicht Empfangsstation im Himmelreich. Hier lebt alles vom Subtext, davon, dass hinter jeder Handlung das Geheimnis eines Menschen steht. Es gibt keine andere Denkmöglichkeit, wenn sie innerhalb eines monistischen Weltsystems bleiben. Sie erkennen den freien Willen als Illusion. Wirken wie Schlafwandler. Kultivieren nicht, sondern bereiten vor, was kommen soll. Der Vampyr versenkt sich, einer Sonde gleich, in ihre Seele. Frisst sich durch ihren Kräfteorganismus und findet das Bindeglied zwischen den Empfindungen und dem Trieb. Die Liebenden ergreift mit stampfend groovendem Herzpoch eine wilde Raserei. Sie suchen Ursprünglichkeit durch Unvorhersehbarkeit und befragen sich mit Wollust als Kreaturen, die sich in Menschengestalt verbergen. Begierde nähert sich allmählich dem Siedepunkt. Fleisch als letzte Wirklichkeit. Einschnitte. Das Aufnehmen ihres Bluts ist eine mythische Vereinigung. Er trinkt aus ihr und fühlt sich zugleich so, als würde sie sein bisheriges Leben aus ihm heraussaugen. In einer Mutation wenden sie sich einander zu und verschmelzen ineinander, kämpfen sich über den Rand der Erschöpfung hinaus und fallen in einen traumlosen Schlaf, der höher ist als alle Vernunft. Die Erschaffung der neuen Welt ist ein Mythos, der den langen Evolutionsprozess sinnbildlich zusammenfasst. Engel haben es an sich, dass sie ihre Liebhaber alles vergessen lassen, immer wenn sie erkannt werden, verschwinden sie…
Dank Echolot und Ultraschall bleibt kein Ding ohne Antwort. Nachts erkennt man Dinge, die man bei Tag nicht sehen kann. Wer träumt, dass er träumt, ist kurz davor aufzuwachen. Die Sonne kitzelt ihm die Nase. Sein Weltbildapparat ist gestört. Das Monströse hat sich bis zur Durchsichtigkeit gebläht, und nun erblickt er den Menschen. Es ist die Einwilligung in das Bestehende mit dem Trost des Verdachts, es eigentlich besser zu wissen. Das Geistige ist eine amalgamente Eigenschaft seines Gehirns und des Kollektivs der menschlichen Gehirne: Das Leben denkt über sich selber nach.
Erotik ist eine Form der geglückten Telepathie. Zwei Menschen, die miteinander schlafen, ahnen, was der jeweils andere will. Sie haben einander durchschaut. Am nächsten Morgen fallen sie in den alten Zustand der Unlesbarkeit zurück. Um wirklich Unsterblichkeit erlangen zu wollen, leben sie bereits zu lang. Der Vampyr und der gefallene Engel sind dazu verdammt, beständig zu werden, und niemals zu sein. Sie sind nicht von damals, nicht von heute, Botenwesen zwischen zwei Sphären, gehetzt und überladen mit Bedeutung und mit Aufträgen: das Damals den Heutigen zu erklären, das Heute ins Damals zu öffnen. Eine Selbstwertschöpfungskette namens Ich setzt sich in Gang… Ihm ist klar, dass Farben nur existieren, weil sie sich in der Reflexion des Lichts spiegeln, wacht zu Tode erschreckt auf und fährt ungläubig mit der Hand über seine Augen. Will hinaus in die Welt, ins Leben. Aber da ist kein Leben mehr in der Welt.
Eine Weile liegt der Vampyr da, lauscht in die Stille und ihr Echo auf das ohrenbetäubende Schweigen… Er öffnet die Augen und sieht neben sich ein Wesen von faszinierender Weltentrücktheit, bleicher als der Mond und kälter als der Tod. Sie hat keine Moral und keine Prinzipien mehr. Und deshalb kann er ihr vertrauen. Das hybride Himmelswesen lächelt ihn an und gibt den Blick auf attraktive Reisszähne frei.
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Monster, Short-Stories von A.J. Weigoni. Krash-Verlag 1990
In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Dieser angeschmutzte Realismus entzieht sich der Rezeption in einer öffentlichen Institution. Daher sei sei Enno Stahls fulminantes Zeitdokument Deutscher Trash ebenso eindrücklich empfohlen wie Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten.
→ Die Monster Short-Stories waren die Vorstufe zu Zombies, Erzählungen von A.J. Weigoni, Edition Das Labor 2010
→ KUNO übernimmt zu Zombies einen Artikel von Kultura-extra aus Neue Rheinische Zeitung und fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur. Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.