„Lebte die Seife?“ Mit dieser rhetorisch-unheimlichen Frage ist man bereits mittendrin im Kosmos eines Projekts von Vera Kattler (Grafiken) und Danilo Pockrandt (Texte), das sich im ersten Band der edition unbewohnt, die die beiden Urheber damit auch als gegründet postulieren, präsentiert: Unter dem Titel sind dort eine Reihe Zeichnungen und Kurzprosastücke vereint, die einem langen Austausch folgen und doppelte Gestalt annehmen.
Ausgangsort dieses Buches ist das legendäre Schloss Wiepersdorf im Fläming, das stille Haus der von Arnims, seit vielen Jahren eines der Traumdomizile vieler Künstler aus ganz Europa. Dort begegneten sich Vera Kattler und Danilo Pockrandt 2011 während eines Stipendiums. An dieser heilig-heimeligen Stätte, deren Bestand immer wieder bedroht und doch immer wieder gesichert scheint, entstanden schon eine Reihe Ideen für gemeinsame Projekte. Und so ist der Kattler’sche Zyklus „Das schöne Gewand“ nun einer Reihe über die Jahre des Kontakts entstandener Pockrandt-Miniaturen gegenübergestellt.
Das Konzept ist dabei so einfach wie faszinierend – dem feinen Strich Kattlers, der eine Textur aus Fließendem und Molluskenscherben vereint, stellt Pockrandt kleine, stille und ins ins Surreale hakende Beobachtungen als Mosaik aus kurzen Prosastücken gegenüber. Kinder werden da in aller Vorsicht und Aufmerksamkeit jongliert, die Dunkelheit des Waldes vom Zipfel der Bettdecke aus erkundet, das Firmament wird durch die beschlagene Scheibe des Fensters dirigiert. Und scheinbar gipfelt die Erkundung in der Frage: „Lebte die Seife?“ Es ist auch eine Zumutung, dass die Seife, wann immer man ans Waschbecken zurückkehrt, einen Bart hat, den man zwar wegwischen kann, der jedoch immer wieder kommt und die kleinen Mitbewohner in der Bude vertreibt, bis eben die Seife alle ist.
So gesehen vereint dieses schmale, aber großformatige Buch auf beiden Seiten der Kunst Striche und Notate, wie sie aus den Träumen aufsteigen und mit dem Erwachen zu Schemen oder Klarnebeln werden – in den Zeichnungen weich und kantig zugleich, in den Texten mit jenem stillen Aufruhr, ausgesetzten Staunen versehen, wie man sie auch von den Gedichten und Kindertexten Pockrandts kennt, der selbst ein ausgewiesener Zeichner und Buchkünstler ist, und dessen dringliches Moment im Sprechen immer wieder auch eine Richtung ins Helle, wenngleich, wie man vermuten darf, erst jenseits des Endes des Textes, impliziert, oft genug, wenn man bereits Atem holt, mit einer Kehrtwende ins Grelle.
Und es ist, so scheint es, auch nicht für alle Teilnehmer dieser Texte vorgesehen, aus den sich mäanderförmig wie die Stoff- oder Perlmuttbögen der Kattler’schen Strichanordnungen in ein höheres zu fügen oder gar zu befreien. Gerade in der Schlussprosa, die in der Tat zum Genre der ‚letzten Texte‘ gezählt werden darf, wird mehr als das deutlich. Das Erzählchen, das sich auch geschwisterlich zu den Texten eines Thomas Böhme („Der Kaventsmann mit der Sammeltasse“ oder, ganz frisch, das fulminant-kühl-schweigsam-beredte „Puppenkino“) denken lässt, beobachtet das Treiben der Perlen im Meer und vor allem derer, die in ihren Bann geraten – das kann nicht gutgehen, meint man; und richtig, schon beginnt eine Heldin ihr Inventar in die Wellen zu schieben. Während dem Beobachter aus seiner Wolke seines Traums nur eben beobachten kann, werden ihm seine eigenen prekär-seltsamen Umstände gleichermaßen und schwer abänderbar bewusst: „Sie hörte nicht auf meine Rufe. Ihre Bewegungen waren langsam und bestimmt. Als auch ihr Kopf in den Wellen verschwunden war, hoffte ich zu erwachen. Und das hoffe ich immer noch.“
Die tieferen Gebilde, sie lassen sich eben nicht so behände wegwischen wie der Bart, den die Seife Tag für Tag ansetzt, bis sie sich auflöst. Auch ein skurriler Tassenbart kommt in „Lebte die Seife?“ vor, überhaupt einiges zum Grifflachen und Gruselgrinsen. Nichtsdestotrotz ist dem Kaleidoskop aus Gewand- und Schneckenschutt, aus Visionen und Entdeckung stets eine Prise Traum-Ernst der Art beigemischt, dass man sich fragt, ob man wacht, schläft oder gar schlafwandelt. Ein Einstand für die frisch erfundene edition unbewohnt, wie man ihn sich trefflicher vielleicht nicht denken kann – ein Wandeln und Wendeln zwischen den Ebenen des Bewusstseins: aus uns heraus und doch bereits jenseits von uns.
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Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.