Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet – – in meinen Heimatjahren, beim Betrachten der kostbaren Zeilen unter Glas im goldenen Rahmen. Den Brief hatte ein Bischof geschrieben an meiner Mutter Mutter, ein Dichter. Blau und mild waren seine Augen, und sanftbewegt seine schmalen Lippen und sein Stirnschatz wohlbewahrt, wie bei Karl Kraus; der trägt frauenhaft das Haar über die Stirn gekämmt. Und immer empfangen seine Augen wie des Priesterdichters Augen gastlich den Träumenden. Immer schenken Karl Kraus’ Augen Audienz. Ich sitze so gerne neben ihm, ich denke dann an die Zeit, da ich den Schreiber des Briefes hinter Glas aus seinem goldenen Rahmen beschwor. Heute spricht er mit mir. Ich bewundere die goldgelbe Blume über seinem Herzen, die er mir mit feierlicher Höflichkeit überreicht. Ich glaube, sie war bestimmt für eine blonde Lady; als sie an unseren Tisch trat, begannen seine Lippen zu spielen. Karl Kraus kennt die Frauen, er beschaut durch sie zum Denkvertreib die Welt. Bunte Gläser, ob sie fein getönt oder vom einfachsten Farbenblut sind, behutsam behütend, feiert er die Frau. Verkündet er auch ihre Schäden dem Leser seiner Aphorismen – wie der wahre Don Juan, der nicht ohne Frauen leben kann, sie darum haßt – im Grunde aber nur die Eine sucht. Ich begegne Karl Kraus am liebsten unter »kriegsberatenen Männern«. Seine dichterische Strategie sind Strophen feinster Abschätzung. Ein gütiger Pater mit Pranken, ein großer Kater, gestiefelte Papstfüße, die den Kuß erwarten. Manchmal nimmt sein Gesicht die Katzenform eines Dalai-Lama an, dann weht plötzlich eine Kühle über den Raum – Allerleifurcht. Die große chinesische Mauer trennt ihn von den Anwesenden. Seine chinesische Mauer, ein historisches Wortgemälde, o, plastischer noch, denn alle seine Werke treten hervor, Reliefs in der Haut des Vorgangs. Er bohrt Höhlen in den Samt des Vorhangs, der die Schäden verschleiert schwer. Es ist geschmacklos, einen Papst zu hassen, weil sein Raunen Flüsternde stört, weil sein Wetterleuchten Kerzenflackernden heimleuchtet. Karl Kraus ist ein Papst. Von seiner Gerechtigkeit bekommt der Salon Frost, die Gesellschaft Unlustseuche.
Ich liebe Karl Kraus, ich liebe diese Päpste, die aus dem Zusammenhang getreten sind, auf ihrem Stuhl sitzen, ihre abgestreifte Schar, flucht und sucht sie. – Männer und Jünglinge schleichen um seinen Beichtstuhl und beraten heimlich, wie sie den grandiosen Zynismusschädel zu Zucker reiben können. O, diese Not, heute rot – – morgen tot! Unentwendbar inmitten seiner Werkestadt ragt Karl Kraus ein lebendiges, überschauendes Denkmal. Er bläst die Lufttürme um und hemmt die Schnelläufer, den Königinnen mit gewinnendem Lächeln den Vortritt lassend. Er kennt die schwarzen und weißen Figuren von früher her von neuem hin. Mit ruhiger Papsthand klappt er das Schachbrett zusammen, mit dem die Welt zugenagelt ist.
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Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.
Während ich am „Kraus–Projekt“ arbeitete, war ich mir bewusst, dass seine Form der des Online–Diskurses ähnelt, zumal zu vielen der Fussnoten ja das (via Internet geführte!); ich hatte die leise Hoffnung, dass sorgfältige Leser schon merken würden, dass das Buch das Internet selbst dann affirmiert, wenn es das Netz eigentlich angreift. Aber der Hauptgrund für die Anmerkungen ist, dass Kraus selbst der grosse Anmerker war, der grossartige frühe postmoderne Meister des Zitats und der Glosse, der direkte Vorfahr der Blogger von heute.
Jonathan Franzen