Vorbemerkung der Redaktion: Vor 150 Jahren starb Henry David Thoreau. KUNO erinnert an ihn mit einem Essay von Karl Knortz.
Das amerikanische Leben ist nicht geeignet, den Hang zur beschaulichen, träumerischen Einsamkeit oder dauernden Zurückgezogenheit zu fördern; denn der dasselbe durchdringende und treibende demokratische Geist zwingt den Menschen unwillkürlich, wenn nicht an allen, so doch an den wichtigsten, sich auf die allgemeine Wohlfahrt beziehenden Fragen thatkräftig theilzunehmen.
Wer sich also hier einem einfachen, die ganze Welt verachtenden Diogenesleben ergiebt, setzt sich, einerlei, was auch die Beweggründe dafür sein mögen, leicht der Gefahr aus, daß sein Gesundheitszustand von der hohen Obrigkeit geprüft und daß er, je nach dem Resultate dieser Untersuchung, entweder in ein Irrenhaus gesperrt oder der sogenannten Heerdenmenschheit wieder einverleibt wird.
Das öffentliche Leben Amerikas ist das Product seiner gleichberechtigten Bürger, und jeder Einzelne ist mithin für die Gestaltung desselben je nach dem Maaße seines persönlichen Einflusses verantwortlich. Zeigt dasselbe nun Schattenseiten, so ist jedem Bürger dadurch einfach die moralische Aufgabe gestellt, dieselben durch geeignetes Einwirken auf die regierende Volksmasse zu beseitigen; sich aber von letzterer schmollend abzusondern und sich in irgend einen abgelegenen Winkel zu verkriechen, um den müßigen Welt- und Menschenfeind zu spielen, ist offenbarer, durch nichts zu entschuldigender Wahnsinn.
Jede absichtliche und beharrliche Fernhaltung vom öffentlichen Verkehre wird von dem nüchternen Amerikaner irgend einer Geistesstörung zugeschrieben, und deshalb mußte sich auch der hier eingehend zu besprechende Henry D. Thoreau, der doch nur zwei Jahre am Waldensee ein wöchentlich mehrmals unterbrochenes Einsiedlerleben führte, um ungehindert philosophischen und naturwissenschaftlichen Studien und Betrachtungen huldigen zu können, damit begnügen, nur bei äußerst wenigen Schöngeistern Anerkennung für seine litterarischen Leistungen zu finden, und es sich außerdem gefallen lassen, von seinen meisten Bekannten für einen unverbesserlichen Narren gehalten zu werden.
Unsere moderne Civilisation ist ein künstliches Gewebe, das uns täglich immer mehr dem directen, Körper, Herz und Gemüth stärkenden Umgang mit der Natur entfremdet und viele der lobenswerthen Eigenschaften und Tugenden raubt, welche den Stolz unserer Vorväter bildeten. Heuchelei, und zwar die ebenso durchsichtige wie unverschämte Heuchelei, ist die Signatur unseres Jahrhunderts geworden, und da, wo ein Prediger die Rückkehr zur Natur verkündet, setzt man ihm entweder taube Ohren entgegen, oder man antwortet durch ein spöttisches, skeptisches Lächeln, obgleich es im Grunde wenig dabei zu lachen giebt. Denn die Rückkehr zur Natur bezeichnet durchaus nicht die Rückkehr in den trostlosen Zustand des Barbarenthums mit seinen Greueln, Entbehrungen und seiner geistigen und körperlichen Unfreiheit, sondern vielmehr eine Rückkehr zur anspruchslosen Einfachheit und zur unbesiegbaren, sich keinen Bedingungen fügenden Charakterfestigkeit. Diese Rückkehr zur Natur soll uns aus der Sklaverei der conventionellen Lügen unserer Civilisation, sowie von den dadurch hervorgerufenen künstlichen Bedürfnissen befreien, damit wir nicht, während wir als Riesen der Intelligenz auftreten, moralisch und physisch verkrüppeln.
Die hier kurz angedeuteten Principien hatte Thoreau zum Leitmotiv seines Lebens, Dichtens und Trachtens genommen, und was wir auch von seiner praktischen Ausführung derselben denken mögen, der consequenten Verfolgung seines Zieles können wir unsere Achtung nicht versagen.
Henry David Thoreau wurde am 12. Juli 1817 zu Concord in der Nähe Bostons in Massachusetts geboren. Dieses Städtchen, in dem sein in bescheidenen Verhältnissen lebender Vater eine kleine Bleistiftfabrik besaß, hatte damals gegen 2000 Einwohner, die meistens dem Handwerkerstande angehörten und die bei aller Anspruchslosigkeit sich doch ernstlich für jede neue Erscheinung auf dem Gebiete der Litteratur und Wissenschaft interessirten. Dr. Ripley, ein unitarischer Geistlicher, bildete während eines halben Jahrhunderts den leitenden Geist dieses Städtchens. Er bewohnte das sogenannte „old manse“ das später durch den Novellisten Hawthorne verewigt wurde. Er war ein bereitwilliger und hülfreicher Berather in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten und Fragen und erfreute sich wegen seiner makellosen Biederkeit des ungetheilten Vertrauens aller Einwohner.
Die Umgebung Concords ist nicht ohne landschaftliche Reize; besonders übten die umliegenden kleinen Seen und sanften Hügel auf das zur Naturschwärmerei geneigte Gemüth Thoreau’s einen unwiderstehlichen Zauber aus. Von seinem sechsten Jahre an trieb er die Kuh seiner Eltern täglich auf die Weide, und sobald er eine Schrotflinte tragen konnte und eine Angel zu gebrauchen verstand, versäumte er es nicht, fleißig damit sein Glück zu versuchen. Nach Spielkameraden sehnte er sich aber so wenig wie diese, die ihn seines ernsten Wesens wegen nur den „Richter“ nannten, nach seiner Gesellschaft.
Nachdem Thoreau das sogenannte Concord College mehrere Jahre besucht und sich besonders eine ziemlich gründliche Kenntniß der klassischen Sprachen, denen er eine bemerkenswerthe Vorliebe entgegenbrachte, angeeignet hatte, bezog er Harward College, woselbst er, da er von seinen Verwandten nur spärliche Unterstützung erwarten konnte, sich eines äußerst ökonomischen Lebens befleißigen mußte. In den Ferien hielt er gewöhnlich auf dem Lande Schule und ließ sich nach dem damaligen Gebrauche von den Bauern Kost und Logis liefern. Bei dieser Gelegenheit lernte er auch einen gebildeten Landgeistlichen kennen, der ihm Unterricht in der deutschen Sprache und Litteratur gab.
Als 1834 Emerson seinen dauernden Wohnsitz in Concord aufschlug und von Dr. Ripley auf die Talente und die Mittellosigkeit Thoreau’s aufmerksam gemacht wurde, ließ er es sich nicht nehmen, den jungen Studenten nach Kräften pecuniär zu unterstützen. Thoreau’s Verwandte waren jedoch von dem Fortschritte seiner Studien, die auch oft durch Kränklichkeit unterbrochen wurden, nicht besonders erbaut, und als er 1837 graduirte, geschah dies ohne jede akademische Auszeichnung. Auf eine solche legte Thoreau, der ein geschworener Feind aller Formalitäten war, auch nicht den allergeringsten Werth.
Sein damaliger Schulkamerad John Weiß, der sich später als Geistlicher der Unitarierkirche hervorthat, hat im „Christian Examiner“ (Juli 1865) dem Universitätsleben Thoreau’s eine ausführliche Schilderung gewidmet. Nach diesem wahrheitsgetreuen Berichte wurde Thoreau für einen geistig beschränkten, mürrischen Sonderling gehalten, mit dem, da er aus seiner Verachtung alles geselligen Wesens und aus seiner Gleichgültigkeit gegen Welt und Menschen durchaus kein Geheimniß machte, keiner seiner Mitschüler in kameradschaftlichen Verkehr trat. Auch seine Lehrer hatten wenig Sympathie für ihn übrig. Sein Leben, verglichen mit dem anderer Studenten, war die Einfachheit selber. In religiösen und socialen Fragen huldigte er schon damals radikaleren Ansichten, als seine Bekannten rathsam fanden. „Die Erziehung,“ sagt er, „macht aus einem sich munter dahinschlängelnden, freien Waldbächlein eine gerade, allen landschaftlichen Reizen entbehrende Grube; sie erstickt die Originalität, die natürliche Einfachheit und die offene, opferbereite Rechtschaffenheit.“ Gegen solche schädliche Einwirkungen wollte er wenigstens sich nach Kräften wehren.
Nach seiner Mittheilung hatte er auf Harward College nur gelernt, seine Gedanken klar auszudrücken; für seine Gedanken aber war er keinem Professor, sondern nur gewissen Büchern, sowie eigenem Sinnen verpflichtet.
Als Thoreau Harward College verließ, war er zwanzig Jahre alt. Zu Hause angekommen, fragte er seine Mutter, was er nun beginnen solle. Als ihm diese nun anrieth, schnell sein Bündel zu packen und sein Glück in der Fremde zu suchen, rief seine Schwester energisch: „Nein, Henry bleibt hier!“ Und so geschah es auch. Zum Reisen hatte er überhaupt wenig Lust, denn sein Herz hing mit allen Fasern an seiner geliebten Heimath.
Da aber etwas gethan werden mußte, um Leib und Seele zusammen zu halten, so entschloß sich Thoreau, seinem Bruder, der in Concord eine Privatschule leitete, zu helfen; da er dieses jedoch, wie er später offen eingestand, nur des schnöden Gelderwerbes wegen that und zum Lehrer nicht die geringste Neigung besaß, so war es kein Wunder, daß seine schulmeisterliche Carrière einen schnellen Abschluß fand. Nach Channing’s Mittheilung mußte Thoreau deshalb seine Stelle aufgeben, weil er den Gebrauch des Stockes verpönte und denselben durch Moralpredigten ersetzen wollte. Man befürchtete nämlich, daß durch diese unerhörte Neuerung das Ansehen der Schule leiden und die Schülerzahl abnehmen würde. Von nun an widmete sich Thoreau dem ihm mehr zusagenden, aber wenig einträglichen Studium der Naturwissenschaften.
In der Zeit, von der wir hier sprechen, fing man in Neuengland an, sich gewaltig für transcendentale Philosophie zu interessiren. Die Leiter dieser Bewegung waren George Ripley, Alcott und Emerson. Dieser Transcendentalismus war eine neue protestantische Richtung des Puritanismus, welche den religiösen Glauben vom Zwange starrer Dogmen befreien wollte. Da nun die Anhänger dieser Religionsphilosophie Rückkehr zur natürlichen Einfachheit predigten und die Verbindung der Arbeit des Kopfes mit der der Hand befürworteten, so braucht es uns nicht Wunder zu nehmen, daß sich Thoreau dieser Bewegung gegenüber nicht kalt verhielt.
Diese Transcendentalisten glaubten ferner, daß die Freiheit des Individuums durch keine Staatsgesetze beengt werden dürfte, und da dies unter den obwaltenden Umständen nicht erlaubt werden konnte, so gründeten die Anhänger dieser neuen Bewegung kommunistische Ansiedelungen, in denen, wie ein sarkastischer Beurtheiler bemerkt, Alles, nur nicht der gesunde Menschenverstand „kommun“ war.
Was man nun immerhin vom Transcendentalismus Neuenglands denken mag, so viel ist sicher, daß er Amerika mit neuen Ideen und Schöpfungen bereicherte und den starren Puritanismus zum Wanken brachte. Letzteres fand allerdings nicht den Beifall des alten Pastors Ripley in Concord, und da er daraus auch kein Geheimniß machte, so ließ sich Thoreau von der Mitgliederliste seiner Gemeinde streichen und weigerte sich, die ihm zum Unterhalt eines Geistlichen auferlegte Steuer zu Zahlen, was ihn beinahe ins Gefängniß gebracht hätte. Nur die schriftliche Erklärung, überhaupt keiner Gemeinde mehr angehören zu wollen, schützte ihn vor der drohenden Freiheitsstrafe.
„Bei den meisten Menschen,“ äußerte sich Thoreau damals, „ist die Religion nichts als eine Gewohnheitssache, oder vielmehr die Gewohnheit ist ihre Religion.“ Als echter Pantheist verrichtete er seinen Gottesdienst in der freien Natur, ohne jedoch dabei wie ein Uhlandscher Schäfer andächtig auf die Kniee zu fallen.
Thoreau war ein vollendeter Meister in der Kunst, sich Mußestunden zu verschaffen, ohne daß man ihn deshalb gerade des Müßigganges anzuklagen braucht. Seine Bedürfnißlosigkeit war die Quelle seiner Selbstständigkeit; er arbeitete überhaupt nur dann, wenn es ihm an den nöthigsten Mitteln zur Stillung seines Hungers gebrach.
Je weniger der Mensch braucht, desto reicher ist er, pflegte er zu sagen. Von diesem Standpunkte aus betrachtet, muß Thoreau für einen der wohlhabendsten Männer seiner Zeit angesehen werden. Er wollte ausschließlich nach seinen eigenen Ansichten leben und sich nicht zur Beschaffung überflüssiger Bequemlichkeiten in die Tretmühle eines bestimmten Geschäftes zwängen lassen. Die Pflichten seines eigentlichen Amtes, wozu er sich selber ernannt, waren: den Lauf der Sonne, Wolken und Stürme zu beobachten, Alles, was auf Erden kreucht oder in den Lüften fleugt, zu studiren und sich betreffs aller Vorgänge in Wald und Feld auf dem Laufenden zu erhalten.
An Welt und Menschen stellte er wenige Ansprüche. Wenn ihm das Geld ausgegangen, so war er bereit, irgend eine Arbeit zu verrichten; dann spaltete er Holz für Emerson, half seinem Vater Bleistifte fabriciren oder verrichtete die Dienste eines Landvermessers, wozu er eine besondere Geschicklichkeit besaß.
An Emerson besaß er einen treuen und zuverlässigen Freund. Derselbe hielt große Stücke auf ihn; er führte ihn in die Kreise seiner Bekannten ein und beredete ihn auch, einige seiner Aufsätze dem „Dial“, dem Organe der Transcendentalisten, zu überlassen. Von 1841 bis 1843 wohnte Thoreau sogar in Emerson’s Haus und machte sich dort auf mannigfache Weise nützlich. In einem an Carlyle gerichteten Briefe schreibt Emerson: „Einer Deiner Leser und Verehrer, Henry Thoreau, wohnt jetzt in meinem Hause. Er ist ein edler, gesetzter junger Mann, auf den Du eines Tages stolz sein wirst. Wir arbeiten jeden Tag in meinem Garten zusammen und ich werde gesund und stark dabei.“ Immer war Emerson jedoch nicht zufrieden mit ihm, denn er machte einst die etwas sarkastisch klingende Bemerkung: „Thoreau is, with difficulty, sweet.“ Da Emerson aber als Wanderredner häufig ausgedehnte Reisen zu machen hatte, war er nur zu froh, daß er während dieser Zeit sein Haus in den Händen eines zuverlässigen und gewissenhaften Wächters wußte.
Auch mit dem mystischen Schwärmer Alcott stand Thoreau auf vertrautem Fuße. Zu Margaret Fuller, der geistreichen Redactrice des „Dial“, fühlte er sich jedoch nicht besonders hingezogen. Dieselbe schreibt von ihm, daß er einem öden Felsen gleiche, der von der warmen Frühlingssonne noch nicht beschienen sei.
Eine ihm völlig wahlverwandte Seele fand Thoreau in William Ellerly Channing, dem Neffen des bekannten gleichnamigen Theologen. Beide lebten mit den gesellschaftlichen Zuständen auf beständigem Kriegsfuß und Beide waren der Naturschwärmerei leidenschaftlich ergeben. Auch hatte Channing einst längere Zeit im Staate Illinois als Einsiedler zugebracht.
Mit dem Novellisten Hawthorne hatte Thoreau wenig Verkehr; Beide aber schätzten sich gegenseitig sehr hoch. Eine Zeitlang hatte er ihn allerdings zum Aufenthalte in der freien Natur begeistert; aber Hawthorne verlor doch gar bald wieder das Interesse an Wind und Wetter, Fischen, Vögeln und Reptilien. Einige Charakterzüge Thoreau’s aber hat er später auf seinen Donatello in „Marble Faun“ übertragen.
Mit besonderer Vorliebe bestieg Thoreau die höchsten Berge in der Umgebung Concords. „Hohe Gipfel,“ pflegte er zu sagen, „kann die Civilisation nicht leicht erreichen, sondern sie muß sich damit begnügen, sich am Fuße hinzuschlängeln.“ Er haßte die Menschen gerade nicht, mied sie aber aus dem Grunde, weil er zu verschieden von ihnen war. Was für die gewöhnlichen Sterblichen Freude und Sorge, Erfolg und Fehlschlag, Hoheit und Gemeinheit bedeutete, ließ ihn völlig kalt. Seine Bekannten sahen ihn oft mitleidsvoll an, wenn er Tage lang einsam und zwecklos durch Feld und Wald schweifte; er hingegen bemitleidete sie ebenfalls, weil sie nicht gelernt hatten, ein gleiches sorgenfreies Leben zu führen. Doch so ganz ungesellig war Thoreau nicht; er fand nur zu wenige, ihm passende Menschen und, wie hinzugefügt werden muß, er gab sich auch nicht die rechte Mühe, sie zu suchen. In Gesellschaft anspruchsloser Farmer befand er sich stets am wohlsten. Kam er mit Gelehrten oder solchen Leuten zusammen, die Anspruch auf Bildung erhoben, so verhielt er sich meist zurückhaltend; öfters aber trat er ihren Anmaßungen auch entschieden und schroff gegenüber.
1843 nahm Thoreau eine Hauslehrerstelle in der Familie eines Bruders von Emerson auf Long Island an und ward dadurch auch mit Horace Greeley bekannt, der damals in seiner „Tribune“ Propaganda für die Ideen Fourier’s machte und der auch dafür sorgte, daß einige litterarische Arbeiten Thoreau’s im Druck erschienen.
Thoreau machte nun öfters Abstecher nach dem benachbarten New-York. Die dortigen Kirchen und Paläste fanden keine Gnade vor seinen Augen, denn er sah in ihnen nichts anderes, als steinerne Gefängnisse für Geist und Körper; größeren Gefallen fand er dagegen an dem dortigen Volksleben auf den Straßen und sonstigen Verkehrswegen. Aber auf die Eisenbahnen, welche ihn immerfort in seinen Betrachtungen störten und welche sich beständig nach allen Richtungen ausdehnten, war er schlecht zu sprechen; er verglich sie mit dem trojanischen Pferde, dessen Bemannung nur Unglück bringt.
Als Alcott den Versuch machte, eine nach den Principien des Transcendentalismus geleitete kommunistische Kolonie zu gründen, suchte er unter Anderen auch seinen Freund Thoreau zum Eintritt in dieselbe zu bewegen, stieß jedoch bei ihm auf entschiedenen Widerstand. Lieber wollte er, schrieb er damals in sein Tagebuch, als Junggeselle in der Hölle leben. Dafür aber gründete er eine „Kolonie“ für sich.
1845 nahm sich Thoreau vor, seinen langgehegten und wohlerwogenen Vorsatz, auf längere Zeit das Leben eines modernen Einsiedlers zu führen, endlich zu verwirklichen und sich am Walden Pond, einem 1 1/2 Meilen von Concord gelegenen See, der eine Fläche von 61 Acker bedeckte, anzusiedeln. „Meine Mitbürger,“ schrieb er damals, „werden mir schwerlich ein öffentliches Amt übertragen, und ich bin daher gezwungen, mir mit meinen spärlichen Mitteln ein Privatgeschäft zu gründen.“ Und dieses Privatgeschäft bestand in philosophischen Betrachtungen, die er dann und wann zur Fristung seines Lebens durch allerlei Frohnarbeiten unterbrach.
Der Waldensee wird von verborgenen Quellen gespeist und hat auch keinen sichtbaren Abfluß; sein Wasser ist so klar, daß man bis zu einer Tiefe von 30 Fuß hineinsehen kann. Zur Zeit Thoreau’s war er mit dicht bewaldeten Hügeln umgeben, in welchen sich häufig Justizflüchtlinge aufhielten. Der Grund und Boden, auf den Thoreau seine Hütte stellte, gehörte Emerson.
Ende März des vorhin genannten Jahres borgte sich also Thoreau Alcott’s beste Axt, die dieser wie seinen Augapfel schätzte, hieb einige mächtige Tannenbäume um und bearbeitete sie zu Balken und Pfosten. Dann kaufte er einige Bretter von einem in der Umgebung wohnenden Irländer und nun ging es an das Aufstellen der Hütte, wobei er von den Schwärmern Alcott und George Curtis wacker unterstützt wurde. Bei dieser Gelegenheit erhielt Ersterer auch seine Axt wieder zurück, und war dieselbe zu seiner Freude viel besser geschärft, als jemals zuvor.
Am 4. Juli, also am Tage der Unabhängigkeitserklärung, bezog Thoreau seine neue Wohnung. Dieselbe hatte ihn baare 28 Dollars gekostet; sie war 10 Fuß breit und 15 Fuß lang.
„Gott sei Dank“, sagte er, „daß ich ohne Möbel stehen und sitzen kann.“ Aber er hatte doch einige Möbel, nämlich einen Tisch, ein Bett und drei selbstgezimmerte Stühle; außerdem besaß er einen Spiegel, eine Feuerzange, einen Kessel, eine Pfanne, eine Tasse, eine Lampe, zwei Messer und Gabeln und einige Krüge für Oel und Molasses. Gardinen brauchte er nicht vor sein Fenster zu hängen, denn Niemand sah sich seine Geheimnisse von außen an, und der Blick der Sonne und des Mondes genirte ihn nicht. Jeden Morgen stand er mit der Sonne auf und nahm, vorausgesetzt daß es die Witterung erlaubte, sein Bad im Waldensee.
Während des ersten Sommers pflanzte er Rüben, Erbsen, Kartoffeln und Bohnen; besondere Sorgfalt verwandte er auf die letztgenannte Frucht, doch sagten die Bauern, die gelegentlich vorbeifuhren und den Sonderling an der Arbeit sahen, daß er die Bohnen erst dann in die Erde stecke, nachdem die übrigen Farmer die ihrigen schon längst eingeheimst hätten.
Am Ende des ersten Jahres hatte Thoreau durch den Verkauf seiner Producte die Summe von acht Dollars erübrigt, – ein Resultat, mit dem er übrigens vollständig zufrieden war. Er war wenigstens unabhängiger als irgend ein mit Hypothekenschulden belasteter Farmer und hatte außerdem noch das beruhigende Bewußtsein, daß, wenn sein Haus abbrenne oder wenn ihm seine Ernte mißrathe, er durch diesen Verlust nicht ruinirt würde.
Da Thoreau so viele Handwerke verstand, wie er Finger an den Händen hatte, so fiel es ihm auch nicht schwer, Beschäftigung zu erlangen, wenn er Geld brauchte. War Letzteres nicht der Fall, so lief er im Walde herum oder saß vor seiner Hausthür unter einem Schattenbaume und ließ sich von den Vögeln, die seine Nähe zu lieben schienen, ein Concert geben. – Abends ging er gewöhnlich am Seeufer spazieren und weckte das Echo durch sein meisterhaftes Flötenspiel.
Seine Kleidung war so einfach wie seine Wohnung. Seine Nahrung bestand aus Reis, Mais, Kartoffeln und anderen Feldfrüchten; manchmal fing er sich auch einen Fisch. Sein Getränk war Wasser.
Im Winter beschäftigte er sich hauptsächlich litterarisch. Einfache Naturmenschen, wie Kinder, Farmer, Jäger und Fischer waren ihm in seiner Hütte stets willkommen. Neugierigen Socialreformern, speculativen Philosophen, langweiligen Philanthropen und schöngeistigen Salbaderern wies er gerade nicht die Thüre, aber er zeigte ihnen dadurch das Unangenehme ihrer Gegenwart an, daß er plötzlich einem „wichtigen Geschäfte“ nachging und die an ihn gerichteten Fragen aus immer größer werdenden Entfernung beantwortete. Emerson, Alcott und Channing waren natürlich stets gern gesehene Gäste.
Da Thoreau, wie überhaupt alle seine Verwandten und Bekannten, ein entschiedener Gegner der Sklaverei war, so hat man nicht mit Unrecht behauptet, daß seine Hütte am Waldensee eine Station der sogenannten unterirdischen Eisenbahn sei, also einer Organisation diente, deren Aufgabe darin bestand, entflohene Sklaven zu unterstützen und sie auf geheimen Wegen nach dem freien Canada zu befördern. Die officielle Sanction der Sklaverei durch seinen Heimathsstaat brachte ihn so in Wuth, daß er beschloß, durch Steuerverweigerung dagegen zu protestiren. Er wollte dem Staate keine Mittel liefern, um damit Menschen zu kaufen, oder Gewehre anzuschaffen, mit denen Menschen erschossen würden. Als nun Thoreau einst Concord besuchte, um seine Schuhe flicken zu lassen, ward er einfach wegen rückständigen Steuern eingesteckt, was ihm jedoch nicht die geringsten Kopfschmerzen verursachte.
Sobald Emerson dies erfuhr, eilte er nach dem Gefängnisse. „Henry“, fragte er, „weshalb bist Du hier?“
„Ralph,“ erwiderte Thoreau, „weshalb bist Du nicht hier?“
Er hatte nämlich gehofft, daß seinem Beispiele Tausende folgen würden, denn er war überzeugt, daß unter einer ungerechten und tyrannischen Regierung das Gefängniß der einzig anständige Aufenthaltsort für denkende Menschen sei.
Thoreau mußte nun wirklich eine Nacht im Gefängnisse zubringen. Als ihm am nächsten Morgen mitgetheilt wurde, daß er wieder gehen könne, da seine Steuern bezahlt worden seien, holte er seine beim Schuster zurückgebliebenen Schuhe und eilte wieder in seine Hütte zurück, in der sich keine ungerechte Staatsgewalt bemerklich machte.
Im Herbste 1847 kehrte Thoreau wieder nach Concord zurück, um sich im Hause seines Vaters einzuquartiren. Sein Einsiedlerleben hatte ihn davon überzeugt, daß das Leben durchaus keine Plage, sondern ein angenehmer Zeitvertreib sei, wenn man nur das Wichtige von dem Unwichtigen unterscheiden könne. Er hatte seine Lebensphilosophie praktisch erprobt und schien mit dem Resultate vollständig zufrieden zu sein.
Thoreau hatte wenige Freunde; er erwartete zu viel von denselben und hatte zu wenig dafür zu geben; auch war er der Ansicht, daß man mit der Natur und den Menschen nicht zu gleicher Zeit sympathisiren könne. Für die Klagen, Schmerzen und Sorgen seiner Bekannten ging ihm, dem kalten Stoiker, jedes Verständniß ab. Zuweilen konnte er recht lustig sein, besonders wenn sich eine Anzahl Kinder um ihn versammelt hatte. Dieselben unterhielt er dann durch allerhand Taschenspielerkünste oder er spielte ihnen einige Stücke auf der Flöte vor. Auch leitete er jedes Jahr die regelmäßigen Excursionen der Kinder nach den ihm wohlbekannten Heidelbeerfeldern der Nachbarschaft, und jedes Kind, das sich seiner Führung überließ, brachte stets einen wohlgefüllten Korb nach Hause.
Thoreau war ein Mann von Wort; wer sein Vertrauen täuschte, machte sich ihn auf ewig zum unversöhnlichsten Feinde. Gegen alle aus dem Auslande importirten Moden, Ansichten und Ideen hatte er eine unüberwindliche Aversion; sein Stolz, Amerikaner zu sein, kannte keine Grenzen. Er würde sich schämen, sagte er, wenn der gewöhnlichste amerikanische Hinterwäldler nicht glücklicher sei, als es Adam vor dem Sündenfalle gewesen wäre. Amerika galt ihm für das begünstigste Land der Erde und Concord für die begünstigste Stadt darauf; doch erlaubte er Jedem, dasselbe von seiner Vaterstadt zu denken.
Thoreau hatte sich eine Sammlung der wichtigsten Schriften des Orientes angelegt, und daß er in denselben gründlich belesen war, zeigen zahlreiche Citate in seinen Werken. Diesen „Bibeln“, wie er sie nannte, wünschte er besonders unter den Christen eine große Verbreitung, damit dieselben endlich einmal lernten, liberaler zu denken, und damit sie von dem Wahne befreit würden, im alleinigen Besitze der höchsten religiösen Weisheit zu sein. Auch das Studium der griechischen und englischen Classiker hatte Thoreau fleißig kultivirt; von den modernen Schriftstellern gab er Goethe und Carlyle den Vorzug.
Einen wunderbaren Zauber übte er auf die Thiere aus. Häufig hob er, wie mehrere Augenzeugen berichten, Fische mit der Hand aus dem Waldensee, hielt sie eine Zeit lang in die Luft und ließ sie dann wieder in das Wasser zurückfallen. Wenn man ihn gröblich beleidigen wollte, brauchte man in seiner Gegenwart nur das Wort „Instinkt“ zu erwähnen. Oft setzte er sich, wie Emerson schreibt, stundenlang unbeweglich auf einen Felsen, bis ein verscheuchter Vogel oder ein furchtsames Reptil sich wieder in seine Nähe wagte. Als sich einst, während er in seinem Felde arbeitete, ein Sperling traulich auf seine Schultern niederließ, hielt er dies für eine höhere Ehre, als wenn man ihn plötzlich mit Generalsepauletten geschmückt hätte.
Thoreau’s Versuche, als Schriftsteller und Wanderredner (lecturer) sein Brot zu verdienen, schlugen fehl. Sein Erstlingswerk „A Week on the Concord and Merrimac Rivers“ (1847) wurde zwar von der Kritik beifällig aufgenommen, fand aber keine Käufer, so daß er, da es auf seine eigenen Kosten hergestellt worden war, zur Abzahlung seiner Schulden längere Zeit Frohndienste als Landvermesser verrichten mußte. Bis zum Jahre 1853 waren von diesem Werke nur 300 Exemplare verkauft worden. Als er nun die Krebse zurück erhielt, schrieb er: „Die Waaren sind wieder in meiner Hand, so daß ich Gelegenheit habe, meinen Kauf zu prüfen. Sie sind substantieller als der Raum, wie mein Rücken bezeugen kann, der sie zwei Treppen hinauf an einen Platz getragen hat, welcher dem ähnlich ist, an dem sie entstanden. Ich habe jetzt eine Bibliothek von 900 Bänden; 700 davon habe ich selber geschrieben. Ist es nicht schön, daß ein Schriftsteller auch einmal die Früchte seiner Arbeit anblicken kann? Nur ein Glück war mit diesem Geschäfte verknüpft. Die ungebundenen Bücher waren vom Drucker in starkes Papier verpackt und darauf geschrieben worden: „Henry D. Thoreau’s Concord River.“ Der Verleger brauchte also nur „River“ auszustreichen, dafür „Mass.“ zu setzen und dann die Sendung irgend einem Fuhrmann zur Beförderung an mich zu übergeben. Das Resultat meiner Arbeit sehe ich nun vor mir. Trotzdem ergreife ich heute mit großer Gemüthsruhe die Feder, um meine Gedanken und Erfahrungen niederzuschreiben; denn je weniger man meine Sachen kauft, desto weniger laufe ich Gefahr, in meiner Zurückgezogenheit gestört zu werden und desto freier bleibe ich.“
Daß dieses Werk, das gedankenvolle Antworten auf allerlei philosophische und sociale Fragen enthält, dem größeren Publikum nicht behagte, ist leicht erklärlich; denn der darin offen und rückhaltlos gepredigte poetisch-mystische Pantheismus galt den Amerikanern, die ja fast Alle in religiösen Vorurtheilen befangen sind, als ein frecher Verrath an dem geoffenbarten Evangelium Christi. Für die heutige Gemeinde Thoreau’s aber hat dieses Werk einen unbeschreiblichen Reiz, da es unstreitig die Eigenart des Verfassers am treuesten wiederspiegelt.
Thoreau’s zweites Werk, „Walden, or Life in the Woods“, das 1854 im Verlage der verdienstvollen Firma Ticknor & Co. in Boston erschien, hatte schon eher Erfolg, da doch die ganze Auflage im Verlaufe weniger Jahre verkauft wurde. Die frische Schreibweise, die anziehende Schilderung des unabhängigen Einsiedlerlebens am Waldensee, sowie die Zeichnung eines hohen, aber leicht erreichbaren Menschheitideals haben dies Buch zum populärsten Werke Thoreau’s gemacht und ihm besonders im Laufe der Zeit in England eine große Anzahl aufrichtiger Verehrer verschafft. Jeder Fremde, der Sinn für Litteratur besaß und zufällig nach Concord kam, versäumte es nicht, sich den „amerikanischen Diogenes“, wie Thoreau von nun an genannt wurde, vorstellen zu lassen.
Auch der Grashalmendichter, Walt Whitman, gehörte zu Thoreau’s Freunden. „Er ist,“ schreibt Letzterer, „der größte Demokrat, den die Welt je gesehen hat. Alle Fürsten und Aristokraten läßt er unbarmherzig über die Klinge springen, was schon längst hätte geschehen sollen. Whitman ist eine äußerst interessante Persönlichkeit; er ist ein echter Gentleman, wenn er auch etwas rauh erscheint.“
Die Lektüre der „Grashalme“, deren zweite Auflage ihm der Dichter geschenkt, machte einen tieferen Eindruck auf ihn, als alle Schriften, die er seit Jahren gelesen. Einige Stellen darin gefielen ihm allerdings nicht; nach seiner Ansicht aber waren dieselben lange nicht so unsittlich oder gefährlich, wie sie auf den ersten Augenblick schienen. Er wünschte nur, daß alle Männer und Frauen so vorurtheilsfrei wären, um sie ohne Schaden lesen zu können. „Im Ganzen genommen,“ fährt Thoreau fort, „ist Whitman ein braver, edler Amerikaner; alle sogenannten Predigten, die jemals in diesem Lande gehalten morden sind, gleichen nicht dem heilsamen Evangelium, das er verkündet. Wir sollten daher stolz auf ihn sein.“
Daß auch Whitman große Stücke auf Thoreau hielt, hat er durch einige Bemerkungen in seinem Buche „Specimen Days“ gezeigt.
Auch mit John Brown, dem bekannten Abolitionisten, schloß Thoreau einen innigen Freundschaftsbund.
Ruhm und Reichthum waren unserem Diogenes höchst gleichgültige Dinge. Wenn die Leute von schlechten Zeiten sprachen, wußte er nicht, was sie darunter verstanden. „Wenn ein Mann eine Loghütte besitzt, sein Korn- und Kartoffelfeld bebaut und sein Brennholz vor der Thüre findet, – braucht er dann über schlechte Zeiten zu klagen? Wenn es regnet, so kann er im Zimmer bleiben und spinnen und weben; ist es draußen zu kalt, so findet er doch Holz daselbst.“ Dies klingt recht schön, aber nur für einen Mann von der Anspruchslosigkeit Thoreau’s, der schon vollkommen zufrieden war, wenn er nur zu essen hatte und sich nothdürftig bekleiden konnte.
Seine ausgedehnten Ausflüge führte er meistens zu Fuß aus; damit das Leder seiner Schuhe, die er niemals wichste, stets weich blieb, rieb er es fleißig mit einer Talgkerze ein, die er zu diesem Zwecke stets bei sich führte. Die theueren Hotels mied er aus ihm wohlbekannten Gründen und zog es vor, sein Nachtquartier bei einem Farmer oder Fischer aufzuschlagen und sich am Heerdfeuer Geschichten erzählen zu lassen.
Wenn er mit seinem breiten Schlapphut und seinem der Mode und dem Geschmacke der übrigen Menschheit spottenden grauen Rocke an einer Farm vorbeiging, wurde er, da er als Tausendkünstler überall bekannt war, oft angegangen, einen Regenschirm oder eine alte Wanduhr zu repariren, ein Thürschloß in Ordnung zu bringen oder einer Kuh beim Kalben behülflich zu sein. Als er mit seinem Freunde Channing einst eine längere Fußtour unternahm, wurden beide ihres auffallenden Aussehens wegen längere Zeit von einem Geheimpolizisten verfolgt, der sie für entflohene Bankräuber hielt.
Als Ritter vom Regenschirm und Schnappsack reiste Thoreau auch einmal auf kurze Zeit nach Canada. Trotzdem er dort, wie er auch selber eingesteht, herzlich wenig gesehen, so schrieb er doch ein ziemlich dickes Buch darüber, das hauptsächlich deshalb großen Anstoß erregte, weil darin der Katholicismus sowie die politischen Einrichtungen Canadas unglimpflich behandelt sind.
1859 starb der Vater Thoreau’s, und der Sohn führte nun die Bleistiftfabrik im Interesse seiner Mutter und jüngeren Schwester fort.
In diesem Jahre kam auch John Brown wieder nach Concord, um im Hause Sanborn’s seine letzte Expedition gegen die Sklavenhalter in Virginien zu organisiren. Die Rede, die Thoreau späterhin über den Fehlschlag dieses Unternehmens hielt, ist ein Meisterstück ihrer Art. Als nun endlich der blutige Bürgerkrieg ausbrach und der Norden eine Niederlage nach der anderen erlebte, da war Thoreau, dessen Gesundheitszustand niemals der beste war, zum Tode betrübt und fühlte sein Ende herannahen. Auf die Frage, ob er Friede mit Gott geschlossen, erwiderte er, daß er sich niemals mit ihm gezankt habe.
Am 6. Mai 1862 starb er und wurde auf dem Kirchhof zu Concord begraben. Emerson hielt ihm die Leichenrede. Seine Ruhestätte ziert ein einfacher Stein mit Namen und Todestag. Die Stelle am Waldensee, an der seine Hütte stand, ist jetzt durch einen Steinhaufen bezeichnet, der dadurch entstanden ist, daß jeder Besucher dieses Ortes dort einen Stein niedergelegt hat. Auch Whitman hat seiner Zeit diesem Gebrauche gehuldigt.
Trotzdem Goethe in einem seiner Gedichte ernstlich davor warnt, sich nicht der Einsamkeit zu ergeben, da ihn alsdann die Welt in seiner Pein lasse und Jeder weiter lebe und liebe, so war er doch in seinem Leben öfters genöthigt, sich zur geistigen Sammlung vom Tagesgetriebe, besonders von den aufreibenden Festlichkeiten des Weimarer Hofes abzusondern, um ungehindert seiner Muse leben zu können. Einsam war er in diesem Falle natürlich nicht, da er ja die Welt nicht aus misanthropischen Gründen floh, sondern lediglich zu dem Zwecke, längst gefaßte und Jahre lang mit sich herumgetragene poetische Pläne endlich einmal zur Ausführung zu bringen.
Goethe ist also in dieser Hinsicht durchaus nicht mit Dr. Zimmermann, dem klassischen Befürworter der Einsamkeit, zu vergleichen, der, ein geborener Hypochonder, schon in der Kindheit seine Hauptfreude darin sah, in düsteren Wäldern, zerfallenen Burgen und öden Gebirgsgegenden herumzuschweifen, um so, wie er glaubte, die einzige, dem Menschen beschiedene Freiheit zu genießen.
Eine solche Freiheit sollte sich nach seiner Ansicht ein Jeder zuweilen genehmigen; denn nur sie bildet die wahren Anlagen aus, die dann, vorausgesetzt, daß der Einsiedler kein Egoist ist, nach der Rückkehr in die Gesellschaft zum Besten derselben verwerthet werden können.
Zimmermann verstand also unter dem Leben eines Einsiedlers durchaus keine von allem menschlichen Verkehr abgeschlossene Eremitenexistenz; doch er wußte recht gut, daß man sich in rauschender Gesellschaft oft viel einsamer fühlen kann, als in einer stillen Klause, in der man sich doch eingehend und ungestört mit seinen Gedanken beschäftigen kann.
Jeder Mensch sehnt sich nach individuellem Glück, einerlei, worin dies für ihn bestehen mag. Sieht er, daß die menschliche Gesellschaft dasselbe nicht befördert, sondern ihm vielmehr hemmend in den Weg tritt, so sucht er es da, wo diese Hindernisse wegfallen und nimmt dabei so wenig Rücksicht auf die Welt, wie diese auf ihn. Die Hauptfrage bleibt natürlich, wie und womit er sich in seiner Einsamkeit beschäftigt.
Christus zog sich bekanntlich zuweilen zur geistigen Sammlung in die Berge oder in die Wüste zurück, um dann später neu gestärkt an der Vollendung seines Werkes zu arbeiten. Zum Hinbrüten hinter Klostermauern hat er keinen seiner Nachfolger zu bewegen gesucht.
In der Gesellschaft muß man vieles über sich ergehen lassen; in der Einsamkeit aber ist man wirklich frei, nämlich frei von Lug und Trug und der Phrasenhaftigkeit des nur Hohlköpfe befriedigenden Alltagslebens. Philister haben niemals Langeweile, denn sie finden überall zahlreiche verwandte Seelen, deren geistloser Quatsch ihnen ein Labsal ist. Nach der Einsamkeit sehnen sie sich nur dann, wenn sie einen langen, ungestörten Schlaf thun wollen. So dürften auch wohl Mönche mehr durch angeborene Faulheit als durch religiöse Motive zu einem thatenlosen, weder ihnen noch der Welt zum Nutzen gereichenden Zellenleben geführt worden sein. Doch in der Einsamkeit schafft ihnen ihr krankes Gehirn gewöhnlich Gesellschaft in Gestalt aufdringlicher Teufel und Teufelinnen, mit denen sie dann auf Tod und Leben kämpfen und so ihre müßigen Stunden ausfüllen.
Als Abwechslung ist die Einsamkeit gesund, ja, für jeden denkenden Menschen ein unabweisbares Bedürfniß; eine solche Einsamkeit ist die Ruhe, in der man für den späteren Kampf mit der Welt seine Kräfte mustert und seine Pläne schmiedet. Beständige Einsamkeit hingegen verhärtet das Herz und macht grillenhaft und hypochondrisch. Nietzsche’s Hang zum einsamen Grübeln und sein Abschluß von jedem menschlichen Verkehr führte ihn in’s Irrenhaus.
Auch der einsame Faust verlor das geistige Gleichgewicht und trug sich mit Selbstmordgedanken, bis er dann auf langen und beschwerlichen Umwegen der menschlichen Gesellschaft als nützliches Mitglied wieder zurückgegeben wurde. Wer die Menschen belehren und reformiren will, muß zuerst ihre Ansichten kennen und diese erfährt man nur durch den täglichen Verkehr mit ihnen, der allerdings nicht immer angenehm ist. Der hinter Klostermauern vergrabene Mönch bessert und veredelt die Menschheit nicht; sein Wirken hinterläßt keinen bemerkenswerthen Einfluß und sein Tod keine empfindliche Lücke. Man mag die Weltflucht als auf unangenehmen Erfahrungen beruhend manchmal beschönigen oder rechtfertigen; haltbar aber sind alle Gründe dafür schon deshalb nicht, weil der Mensch so zu sagen ein Heerdenthier und zur Erhaltung seiner Existenz auf die Hülfe Anderer angewiesen ist. Außerdem liefern uns die Schwächen und Fehler unserer Mitmenschen mehr Stoff zu philosophischer Gedankenarbeit als alle Maximen der Weisen, die in einsamer Studirstube ausgeheckt worden sind. Lernt doch auch ein Arzt mehr an Kranken als an Gesunden. Findet der zartfühlende, leicht zu beleidigende Mensch keine Perlen im Meere des Lebens, nun, so betrachte er es als seine moralische Aufgabe, sie hineinzulegen. Wahre Tugend kann nur im Umgange mit den Menschen zum Ausdruck gelangen und alles Wissen ist todtes Capital, sobald es nicht in den Dienst der Allgemeinheit gestellt wird.
Selbst Schopenhauer, der verbissene Pessimist, arbeitete für die Menschheit; dieselbe ekelte ihn allerdings an, trotzdem aber sehnte er sich aufrichtig nach einem ihm zusagenden Umgang und gab einst dem Nibelungendichter Jordan den ernstlich gemeinten Auftrag, wenn er einmal die Bekanntschaft eines wirklichen Menschen mache, ihm denselben zuzuführen. Er hielt einfach seine Zeit für viel zu werthvoll, um sie in Gesellschaft langweiliger Schwätzer zu vertrödeln. Aehnlicher Ansicht huldigte auch Rousseau.
Ungestörtes Glück ist übrigens doch nur in der Einsamkeit denkbar. Mit Niemand geräth man da in Streit. Kein Unberufener trinkt einem den Weinkeller leer, liest einem unaufgefordert seine gesammelten Gedichte im Manuscripte vor oder stiehlt einem sonstwie die Zeit ab. Auch beneidet uns Niemand um dieses Glück, weil es Niemand zu kennen scheint. In der Einsamkeit ziehen wir den Schlafrock an; die Gesellschaft verlangt den Frack. In der Einsamkeit ist man Fürst, in der Gesellschaft Diener, und oft genug nur ein geduldeter. Im Getriebe des menschlichen Verkehrs sammeln wir allerdings den Stoff zu gedankenreichen Werken; aber nur in der Einsamkeit können wir dieselben ausarbeiten. Wer sich also ohne hohen Lebenszweck in die Einsamkeit begiebt, begeht moralischen Selbstmord. Sie ist mithin für starke Seelen ein ebenso mächtiges Bedürfniß, wie die gewohnte Stammkneipe für den kannegießernden Philister.
Absolute Einsamkeit existirt übrigens nicht. Selbst Elias erfreute sich der Gesellschaft einiger Raben und stieg manchmal, um seinem Grolle Luft zu machen, von seinem Berge herab.
Derjenige, der die Welt zu sehr geliebt oder zu viel von ihr erwartet hat, wird zum Misanthropen, denn er hat bei der Umarmung der Menschheit einen Eisklumpen an sein Herz gedrückt. Aber der Kluge öffnet der Welt sein Herz nicht, denn er weiß, daß sie an seine Tugenden nicht glaubt.
Das Verachten der Masse ist leicht; derjenige aber, der sich dies erlaubt, sollte sich vor Abgabe seines Verdammungsurtheiles doch einmal ernstlich fragen, was er denn zur Hebung derselben gethan hat. Als Buddha Kenntniß vom allgemeinen Elende der Menschheit erhalten hatte, verließ er seinen Palast und brach jede Verbindung mit seinen Angehörigen ab, um in stiller Abgeschiedenheit über das Problem der Erlösung von allem Uebel nachzudenken. Als er aber seine Gedankenarbeit vollendet hatte, trat er wieder in die Welt zurück und verkündete ihr das edelste Evangelium der Humanität, das jemals ersonnen worden ist. Seine Lehre von der Weltflucht und der Unterdrückung aller Wünsche hat sich jedoch in Folge späterer Umbildungen der Civilisation, d. h. so wie wir sie verstehen, hinderlich gezeigt.
Dante war durch die Verhältnisse zu einem einsamen Leben verdammt worden; dasselbe schien jedoch seinen Neigungen zu entsprechen, denn er wußte nur zu gut, daß er, der sich niemals verstellen konnte, bei seiner ernsten Gesinnung, seinem unbeugsamen Charakter und seinem unbezwinglichen Hasse gegen alles Gemeine sich niemals in der Gesellschaft heimisch fühlen konnte. Als er einst gefragt wurde, weshalb ein gewisser Dummkopf so viele Freunde habe, erwiderte er, daß sich alle Geschöpfe gerne bei Ihresgleichen aufhielten.
Petrarca, der beredte, freiheitliebende und großmüthige italienische Dichter sagt in seiner Schrift über die Einsamkeit, daß die Ernstlosigkeit und sittliche Verderbniß der Gesellschaft es jedem Menschen unmöglich machten, vollkommen zu werden. Dieses lasse sich nur durch Ruhe und Freiheit in der Stille des Waldes und des Feldes erreichen. Nichts schien ihm so langweilig, wie die Conversation mit einem unverständigen, langweiligen Menschen. Nur in der Einsamkeit fühlte er sich wohl. Dort fand er Rom, Florenz und Athen und schrieb Briefe an seine todten Freunde Homer, Cicero u. s. w. Er bedauerte die Menschen, verachtete sie aber nicht.
Auch Descartes fand in der Zurückgezogenheit den ersehnten Frieden. Er änderte lieber seine Wünsche als seine Verhältnisse, wenn nur seine Ruhe dadurch befördert wurde. Der mißtrauische Rousseau, der überall Verleumder sah, die sich gegen ihn verschworen hatten, hielt die zahlreichen Täuschungen seines Lebens für ein ihm zugefügtes Unrecht; da er ferner die ihm von der Gesellschaft auferlegten Pflichten für eine Beeinträchtigung seiner Selbstständigkeit ansah – wahre Freundschaft legte nach seiner Ansicht keine Pflichten auf – so schuf er sich ein seinem Geschmack entsprechendes Phantasieleben und begeisterte spätere Generationen für Freiheit, Natur und Edelsinn.
Der schon erwähnte Zimmermann, dessen vielbändiges Werk über die Einsamkeit noch immer Leser findet, war, wie Carlyle sagt, zu dünnhäutig für die Welt, um am Getriebe derselben Gefallen zu finden. Die Rohheiten der Masse und die Laster der Reichen widerten ihn an. Da nicht Jeder mit den Wölfen heulen kann, schreibt er, so bleibt ihm weiter nichts übrig, als sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, in die nur der paßt, der Niemand ähnlich ist, der Niemand liebt und der auch von Niemand geliebt wird. Zimmermann selber war schon deshalb nicht für die Einsamkeit geschaffen, weil er ruhmsüchtig war, gerne mit hohen Würdenträgern verkehrte und Jedem durch sein zuvorkommendes Wesen und seine ritterlichen Manieren Schmeicheleien zu entlocken suchte.
Der demokratisch gesinnte Beethoven war sein ganzes Leben verstimmt, weil die musikalische Welt zu lange mit der Anerkennung seiner Verdienste zögerte; dann stärkten seine Taubheit und sein melancholisches Temperament seinen Hang zur Einsamkeit in solchem Grade, daß er sich sogar längere Zeit mit Selbstmordgedanken trug, von deren Ausführung ihn nur die Liebe zur Kunst abhielt.
Shelley, der zartfühlende, edle Poet, der die Menschen so unaussprechlich liebte, aber die ersehnte Gegenliebe nicht fand, hat in dem allegorischen Gedichte „Alastor“ seinem Hange zur Einsamkeit erhabenen Ausdruck verliehen. Alastor ist von der Sehnsucht nach einem ihm ebenbürtigen Geiste inbrünstig erfüllt und da er diesen nur in der Welt seiner Phantasie, nicht aber in der wirklichen Welt findet, so sinkt er enttäuscht in ein frühes Grab.
Auch Coleridge führte ein einsames Leben. In dem Orte, den er zwanzig Jahre bewohnte, war er so unbekannt, daß, als er starb, Niemand seiner Leiche folgte.
Niemand dürfte sich in der Einsamkeit wohler gefühlt haben als Wordsworth. In der Stille der Natur fand er Alles, wonach sein Herz sich sehnte, nämlich einen Tempel zur Verrichtung seiner Andacht, einen Ort der Ruhe und Freude und eine Laube zum idyllischen Träumen.
Im Dhahammapada steht zu lesen: „Wenn du keinen Freund hast mit dir zu reisen, so reise fröhlich alleine, das Ziel vor dir, die Welt hinter dir. Besser alleine mit deinem Herzen, als mit einer Menge von Schwätzern.“ Diesen Spruch hatte sich Thoreau, auf den wir nun wieder zurückkommen, zum Leitstern seines Lebens erkoren. Die Vergangenheit kümmerte ihn wenig; er lebte nur für die Gegenwart und hoffte das Beste von der Zukunft.
Sein Gottesdienst bestand im regen Verkehr mit der Natur. Die christlichen Kirchen nannte er Seelenhospitäler und die darin thätigen Pastoren geistliche Quacksalber. Seine unumwunden ausgesprochenen Ansichten beleidigten die Heiligen und die Sünder; bei sich verachtete er beide. Es scheint, als habe er an die Unsterblichkeit der Seele und an eine geistige Regierung der Welt geglaubt; deutlich hat er sich jedoch nicht über diese Punkte ausgesprochen. Seine Religion war entschieden praktischer Natur; sie bestand in Selbstveredlung, Selbstachtung, Reinheit der Seele und des Körpers und in der Fernhaltung alles Kleinlichen und Unedlen.
Reichthümer wollte er nicht sammeln, sich aber auch in keiner Hinsicht von Andern abhängig machen. Wo der gute Landwirth ist, pflegte er zu sagen, da ist auch der gute Boden. Wer von Anderen Wohlthaten annehmen muß, ist ein Armenhäusler, auch wenn er in einem Palaste wohnt.
Thoreau war stets sein eigener Rathgeber, er saß lieber allein auf einem Kürbis, als daß er sich mit Anderen auf einem Sammetkissen zusammengedrängt hätte. Eine Vereinigung der Menschen hielt er nur dann für rathsam, wenn es sich um die Verwirklichung eines lobenswerthen, weltbewegenden Zweckes handelte.
Thoreau war der Anarchist des Idealismus. Die bestehende Regierung sei nur so lange zu dulden, bis die Freiheit des Individuums, so wie sie früher bestanden, wieder zurückerobert sei.
Die Tagespolitik kümmerte ihn nicht. „Selig sind die Kinder“, sagte er, „denn sie lesen die Botschaften der Präsidenten nicht“. Da bei den politischen Wahlen die Stimme des guten Bürgers gerade so viel zählt wie die des schlechten, so legte er der Stimmenabgabe überhaupt kein großes Gewicht bei; viel wichtiger war ihm die Frage, welchen Menschen man täglich aus seinem Hause entläßt.
Nach seiner Ansicht hatte der Socialismus vorzugsweise den Zweck, entschiedenere und unabhängigere Charaktere zu bilden, als es die gegenwärtigen Verhältnisse ermöglichten. Außerdem sollte er dafür sorgen, daß Jeder an den Segnungen der Civilisation theilnehmen könne, während die Jetztzeit den Palast neben das Armenhaus gestellt habe. Thoreau wollte die Einfachheit des wilden mit dem Intellecte des civilisirten Menschen verbunden sehen. Deshalb schrieb er seine Bücher und deshalb hatte er seine Lehren am Waldensee praktisch erprobt.
Lowell sagt in einem Essay, Thoreau habe sich dadurch der Heuchelei schuldig gemacht, daß er als Einsamkeitsapostel seine Hütte in der Nähe menschlicher Wohnungen und nicht etwa 150 Meilen davon entfernt aufgeschlagen habe; er vergaß hier, daß man in der volkreichsten Stadt ebenso einsam wohnen kann wie auf einer unbesiedelten Prairie. Ferner ward ihm vorgeworfen, daß er durch seinen Aufenthalt am Waldensee die Aufmerksamkeit der Masse habe auf sich lenken wollen, was nur in grellstem Widerspruche zu seinem Charakter steht; machte doch auch Emerson Thoreau öfters den Vorwurf, daß er nicht den geringsten Ehrgeiz besäße. Thoreau wollte nicht anders sein als er in Wirklichkeit war, und deshalb ist es auch vergeblich darüber zu grübeln, was unter anderen Umständen aus ihm geworden wäre.
In seinem Werke „Walden“ klagte er, daß es dem heutigen Arbeiter versagt sei, aufrichtig, edel und rechtschaffen sein zu können, denn die Fristung seines Lebens mache ihn nothgedrungen zum Lügner, Schmeichler und Heuchler. Diese Uebelstände würden durch ein anspruchsloseres Leben leicht beseitigt.
Als Dichter, d. h. als Verfasser einiger Arbeiten in gebundener Sprache wird Thoreau ziemlich gering geschätzt; ohne Werth sind seine Gedichte jedoch nicht, wie besonders folgendes, von Emerson so hochgeschätztes, zeigt:
Smoke.
Light – winged Smoke! Icarian bird,
Melting thy pinions in thy upward flight;
Lark without song and messenger of dawn,
Circling above the hamlets as thy nest;
Or else, departing dream and shadowy form
Of midnight vision, gathering up thy skirts;
By night star-veiling, and by day
Darkening the night and blotting out the sun;
Go thou. my incense, upward from this hearth,
And ask the gods to pardon this clear flame.
Thoreau’s bis jetzt veröffentlichten Werke füllen zehn Bände; dieselben sind bei Houghton, Mifflin & Co. in Boston erschienen und von H. G. O. Blake redigirt worden. Derselbe hat auch in seinem Werkchen: „Thoreau’s Thoughts“ (Boston 1890) eine Bibliographie der Thoreauschen Schriften sowie ein Verzeichniß aller über den Einsiedler am Waldensee erschienenen Werke und Abhandlungen geliefert.
Man hat Thoreau mehrfach mit Abraham Cowley, einem englischen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts verglichen. Derselbe hatte sich nämlich ebenfalls, aber erst nachdem er alle Gerüche dieser großen Erdenküche gerochen, in die Einsamkeit des Landlebens zurückgezogen, dort philosophische Betrachtungen angestellt und dann in elegant stylisirten Essays die Rückkehr zur Natur empfohlen.
In der Neuzeit hat übrigens England mehrere Dichter und Denker aufzuweisen, welche man als Nachfolger Thoreau’s bezeichnen kann; so z. B. den 1887 verstorbenen Richard Jeffries. Die auffallende Aehnlichkeit seiner Ansichten mit denen Thoreau’s ist jedoch lediglich auf den Umstand zurückzuführen, daß beide dieselben Themata von demselben Standpunkte aus behandelten. Auch Jeffries, der Sohn eines armen englischen Farmers, war von Kindheit an ungesellig und von einem krankhaften Hange zur Einsamkeit beseelt. Unter den Kindern seines Dorfes besaß er keine Freunde und dieselben luden ihn auch niemals zu ihren Spielen ein. Nachdem er eine Zeit lang als Reporter an einem Landblättchen thätig gewesen war und sich dann als Novellist versucht hatte, wandte er sich dem Studium der Natur zu und trieb sich, wozu er auch durch seine schwankende Gesundheit veranlaßt wurde, fleißig im Freien herum. Die Naturbilder, die er nun schuf, gehören besonders durch ihre glänzende Detailmalerei zu den hervorragendsten ihrer Gattung. Ein eigentlicher Naturforscher war er ebensowenig wie Thoreau. Wie dieser predigte er die Rückkehr zur Natur, um die Menschen von den entnervenden Künsteleien der Civilisation zu befreien, aber die Sympathie des Amerikaners mit der Thierwelt theilte er nicht. Thoreau sagt, daß der Hase, wenn er in Gefahr gerathe, wie ein Kind weine; Jeffries hingegen behauptet, daß der Hase augenscheinlich nur geschaffen sei, um auf ihn Jagd zu machen. Aufrichtiger aber als Thoreau nimmt er die Partei des Lohnarbeiters, für dessen Dynamitattentate er nur den herzlosen Arbeitgeber verantwortlich macht. Die Existenz der Armenhäuser bezeichnet er als die größte Schmach der Civilisation; Nahrung, Kleidung und Obdach liefert die Natur für Alle in Hülle und Fülle und man braucht diese Dinge nur gerecht zu vertheilen.
Auch der Engländer Edward Carpenter und der Amerikaner John Burroughs gelten mit Recht als Schüler Thoreau’s; ebenso der nun verstorbene Schweizer H. F. Amiel, der, nachdem er in Berlin und Heidelberg studirt, in Genf eine Professur für Aesthetik und Philosophie bekleidete. Sein Werk „Fragments d’un journal d’intime“ (6. Aufl. 1893), von dem Frau H. Ward eine englische Uebersetzung lieferte, zeigt ihn uns als gefühlvollen und geistreichen Interpreten der Natur und zugleich als einen der elegantesten Stylisten seiner Zeit. In Frankreich hat man ihn jedoch bis jetzt ziemlich unbeachtet gelassen.
Doch auch Deutschland scheint neuerdings in Christian Wagner, einem einfachen Bauersmann in Warmbronn, einen Geistesverwandten Thoreau’s zu besitzen. Jedes Ding in Feld und Wald erinnert ihn grüßend an die längst verschwundene Zeit, da er noch als Theil des Blätterschmuckes zitterte. Auch ihm, dem stark zur Melancholie geneigten Dichter, ist die Natur die einzige Freistätte der Armen und Verlassenen. Jedem wünscht er Frieden, nur dem Menschen mit gemeiner, käuflicher Gesinnung nicht. Kein lebendes Wesen will er zerstören, sondern sein Dasein angenehmer gestalten. Freude an der Existenz ist der Zweck derselben. Nicht in dumpfen Kellerräumen, sondern nur in freier Luft singt der Vogel.
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KUNO empfiehlt: Waldgänger und Rebell. Eine Biographie von Frank Schäfer
Eine Einführung in Leben und Werk von Gerhard Gutherz findet sich hier. Zum 150 Jahren Todestag erinnert KUNO an ihn mit einem Essay von Karl Knortz.
→ Zu Beginn des Essayjahres machte sich Holger Benkel gedanken über das denken.
→ In 2013 unternahm Constanze Schmidt essayistische Gedankenspaziergänge.
→ Gleichfalls in 2013 versuchte KUNO mit Essays mehr Licht ins Dasein zu bringen.
→ In 2003 stellte KUNO den Essay als Versuchsanordnung vor.