Vor zwei oder drei Jahren verkürzte man das Jahr in Frankreich um zehn Tage. Wie manche Veränderung muß auf diese Verbesserung folgen?
Es hieß eigentlich, Himmel und Erde auf einmal bewegen. Dessenungeachtet ist nichts aus seiner Stelle gerückt. Meine Nachbarn treffen die Zeit ihrer Aussaat und ihrer Ernte, die rechte Stunde zu ihren Geschäften, die glücklichen und unglücklichen Tage gerade in eben der Ordnung, wie solche seit undenklichen Zeiten bestimt waren. So wie wir die Unordnungen bei unsern Geschäften nicht gewahr wurden, so bemerkten wir auch die Verbesserung nicht; so viel Ungewißheit mischt sich in alles! So sehr ist unser Gewahrwerden grob, dick und stumpf. Man sagt, diese Verbesserung hätte auf eine weniger unbequeme Weise vorgenommen werden können, wenn man nach dem Beispiel des Augustus einige Jahre nacheinander die Schalttage weggelassen hätte, welche so immer Tage der Unordnung und der Verwirrung sind, bis man endlich dahin gekommen wäre, die ganze Schuld zu tilgen, was man eigentlich durch diese Verbesserung nicht getan hat. Denn noch bleiben wir immer um einige Tage im Rückstand, und wenn man durch ebendieses Mittel für die Zukunft gesorgt hätte, indem man nach der Umwälzung so vieler Jahre diesen Schalttag immer ausgeworfen hätte, so daß unsere Verrechnung hinfort niemals über 24 Stunden hätte betragen können. Wir haben keine andere Zeitrechnung als das Sonnenjahr, nach welchem sich die Welt schon seit so vielen Jahrhunderten gerichtet, und dennoch ist es eine Berechnung, zu deren völligen Festsetzung wir noch nicht gelangt sind; meistens von der Beschaffenheit, daß wir noch immer in Zweifel stehen, welche Form ihr die andern Nationen auf verschiedene Weise gegeben haben und welchen Gebrauch sie davon machen. Ob etwa, wie einige sagen, die Gestirne, indem sie älter werden, näher gegen uns zusammenrücken und uns selbst über die Stunden und Tage in Ungewißheit versetzen? Sagt doch Plutarch bei Gelegenheit der Monate, die Sternkunde habe noch zu seiner Zeit die Bewegung des Mondes nicht genau bestimmen können. So sind wir also vortrefflich daran, wenn wir über vergangene Dinge Buch führen wollen!
Eben dachte ich so darüber nach, wie ich oft zu tun pflege, was die menschliche Vernunft für ein freies und unbestimmtes Werkzeug ist. Gewöhnlich sehe ich, daß die Menschen bei Tatsachen, die man ihnen vorlegt, lieber die Vernünftelei als die Wahrheit aufsuchen. Sie gleiten über Voraussetzungen hin, untersuchen aber sehr sorgfältig Folgerungen. Sie lassen die Begebenheiten beiseite liegen und jagen den Ursachen nach. O der armseligen Ursächler! Die Kenntnis der Ursachen geht bloß denjenigen an, welcher die Dinge zu führen hat, keineswegs uns, die wir sie immer zu leiden haben, für die sie nur zum richtigen Gebrauch da sind, nach unserm Bedürfnisse, ohne ihr Wesen und ihren Ursprung zu durchdringen. Der Wein ist einem Menschen nicht schmackhafter, der seine wesentliche Kraft kennt. Umgekehrt vielmehr. Sowohl der Körper als die Seele unterbrechen und verändern das Recht, welches sie auf den Gebrauch der Welt und sich selbst haben, wenn sie die Meinung der Gelehrsamkeit daruntermischen. Die Wirkungen betreffen uns allerdings, die Mittel aber keineswegs. Bestimmung und Verteilung ist Sache der Regierung und Herrschaft, wie es Sache der Unterwerfung und der Lehrjahre ist, solche anzunehmen. Um wieder auf unsere Weise zu kommen: Gewöhnlich fängt man damit an: Wie geschieht das? Man sollte aber sagen: Geschieht es? Wir sind vermögend, uns tausend andere Welten zu denken, ihre Grundlage und Zusammensetzung vorzustellen. Dazu gehört weder Stoff noch Grundlage. Laßt der Vorstellung ihren Lauf, sie baut ebensowohl ins Leere als ins Volle, auf Nichts als auf Sein.
Dare pondus idonea fumo.
Ich finde fast allenthalben, daß man sagen sollte: Es ist nichts daran, und möchte oft diese Antwort gebrauchen; aber ich wage es nicht. Denn man schreit, das sei bloß der Einwand der Geistesschwachheit und Unwissenheit, und gewöhnlich muß ich das Gaukelspiel so mitmachen und so eitel hin über nichtige Gegenstände und Erzählungen mitsprechen, woran ich nicht den geringsten Glauben habe. Dazu kommt noch, daß es wirklich ein wenig hart und zanksüchtig ist, geradezu eine vorgelegte Tatsache zu leugnen; und wenige Leute ermangeln, besonders von Dingen, die schwer zu glauben sind, zu behaupten, sie hätten solche gesehen oder Zeugen anzuführen, deren Ansehen unserm Widerspruch Einhalt tut. Zufolge dieser Gewohnheit wissen wir den Grund und die Vermittelung von tausend Dingen, welche niemals statthatten. So zankt sich die Welt über tausend Fragen, bei welchen das Für und Wider gleich falsch ist.
Ita finitima sunt falsa veris … ut in praecipitem locum non debeat se sapiens committere.
Wahrheit und Lügen sind ähnlich an Gestalt, am Gange, an Geschmack und an Schritt; wir betrachten sie mit einerlei Augen. Ich finde, daß wir nicht nur feigherzig sind, uns gegen die Täuschungen zu verteidigen, sondern daß wir sogar geneigt sind und suchen, uns von ihnen fangen zu lassen. Wir mögen uns gern in Eitelkeit verwickeln, weil sie unserm Wesen angemessen ist.
Ich habe die Entstehung vieler Wunderwerke unserer Zeit mitangesehen. Ob sie gleich bei ihrer Geburt wieder ins Nichts sinken, so sehen wir doch, was für einen Schwung sie genommen haben würden, wenn sie nur eine gewisse Zeit überlebt hätten. Denn man darf nur das rechte Ende eines Knäuels finden, um so viel davon abzuwickeln, als einem beliebt. Und nichts ist von der geringsten Kleinigkeit weiter entfernt als die geringste Kleinigkeit von der größten Sache der Welt. Nun wissen aber die ersten, welche sich ein Geschäft aus dem Anfang befremdlicher Vorfälle machen, indem sie ihre Geschichte ausstreuen, recht gut, wo die Schwierigkeit der Überzeugung liegt, und wissen daher solche schwache Seiten mit falschen Urkunden auszustopfen.
Außer der insita hominibus libidine alendi de industria rumores.
Machen wir uns auch natürlicherweise ein Gewissen daraus, was man uns geliehen hat, ohne Zinsen und ohne Zugabe von unserm Eigenen weiterzubefördern. Erst wird der Irrtum einzelner zum Irrtum aller, und hernach bewirkt der Irrtum aller den Irrtum des einzelnen. So geht es mit diesem ganzen Gebäude. Jeder trägt zu seiner Erdichtung das Seinige bei, so daß der entfernteste Zeuge davon näher unterrichtet ist als der nächste und der zuletzt unterrichtete fester überzeugt als der erste. Es ist ein ganz natürlicher Fortschritt. Denn jeder, der eine Sache glaubt, hält es für einen Liebesdienst, an dere davon zu überzeugen. Um nun dieses zu bewerkstelligen, befürchtet er nicht, etwas von seiner eigenen Erfindung hinzuzutun, damit er dem Widerstand und Mangel begegne, welchen er in der Glaubenskraft eines andern voraussetzt. Ich selbst, der ich besonders gewissenhaft bin, nicht zu lügen, und mich nicht sehr darum bekümmere, demjenigen, was ich sage, Glauben und Ansehen zu erwerben, bemerke dennoch, wenn ich etwas erzähle, ich mag nun durch den Widerspruch, wenn ich etwas vortrage oder durch meine eigene Erzählung warm werden, daß ich immer meinen Gegenstand verschönere und vergrößere, sei es durch die Stimme, durch Sprache der Hände oder durch die Kraft und den Nachdruck der Worte, und selbst durch Zusätze und Vermehrungen. Freilich verliert dadurch die reine Wahrheit; sobald mich aber auch der erste, der beste, darauf zurückführt und mich um die nackte dürre Wahrheit befragt, gebe ich alle meine Bemühungen auf und sage ihm solche ohne Vergrößerung, ohne Rednerschmuck und Verschönerung. Die lebendige und laute Sprache, wie gemeiniglich die meinige ist, artet leicht in Übertreibung aus. Die Menschen sind gewöhnlich auf nichts so sehr bedacht, als ihren Meinungen Eingang zu verschaffen. Wo uns die gemeinen Mittel abgehen, nehmen wir unsere Zuflucht zum Befehlen, zur Gewalt, zu Feuer und Schwert. Es ist ein Unglück, daß es dahin gediehen ist, daß wir die Menge der Gläubigen und den großen Haufen, worunter die Narren den Weisen in so großer Zahl überlegen sind, für den besten Prüfstein der Wahrheit halten.
Quasi vero quidquam sit tam valde, quam nil sapere, vulgare.
Sanitatis patrocinium est, insanientium turba.
Es ist schwer, sein Urteil gegen die allgemeine Meinung rein zu erhalten. Die erste Überzeugung von einem Gegenstand fängt bei den Einfältigen an, von da wird sie den Klügern mitgeteilt durch Ansehen, Zahl und Alter der Zeugnisse. Ich glaube nicht Hunderten, was ich nicht einem glauben kann, und beurteile die Meinungen nicht nach den Jahren. Es ist noch nicht lange her, daß einer unserer Prinzen, bei dem die Gicht eine schöne Anlage und einen herrlichen Kopf verdorben hatte, sich durch die Nachricht, die man ihm von den Wunderkuren eines Priesters gegeben hatte, der durch bloße Worte und Gebärden alle Krankheiten heilen sollte, bewegen ließ, eine große Reise zu unternehmen, um den Wunderdoktor aufzusuchen. Die Kraft seiner Einbildung vermochte auf einige Stunden die Schmerzen seiner Füße einzuschläfern und zu betäuben, daß er sich ihrer zu einem Dienste bedienen konnte, den zu leisten sie seit langer Zeit verlernt hatten. Wenn das Glück noch fünf oder sechs solche Begebenheiten hervorbrachte, wer hätte dem Wunderwerk widersprechen wollen? Man fand nachher bei dem Werkmeister derselben so viel Einfalt und so wenig Kunst, daß man ihn jeder Ahndung für unwürdig hielt. So würde man bei den meisten solcher Dinge verfahren, wenn man auf ihren Ursprung zurückginge:
Miramur ex intervallo fallentia.
So stellt uns unser Auge oft in der Ferne sonderbare Gestalten vor, welche wieder verschwinden, wenn wir uns ihnen nähern:
Nunquam ad liquidum fama perducitur.
Es ist erstaunlich, aus wie geringfügigen Anfängen, aus was für nichtigen Ursachen gewöhnlich so berufene und allgemeine Sagen entstehen. Eben dadurch wird ihre Untersuchung gehindert. Denn während man die Ursachen untersucht und die wichtigen Zwecke, die eines so großen Ruhmes würdig wären, tritt man über die Wahrheit hinweg. Die Ursachen und Veranlassungen sind oft so klein, daß sie sich unserm Auge entziehen. Und was die Wahrheit anbetrifft, so gehört ein sehr kluger und aufmerksamer und scharfsinniger Erforscher dazu, um sie bei solchen Umständen zu entdecken; auch muß er sehr gleichgültig sein und keine Partei angenommen haben. Bis auf diese Stunde verbergen sich alle diese Wunderbegebenheiten und erstaunlichen Geschichten vor mir.
Ich habe auf dieser Welt kein so auffallendes Ungeheuer noch Wunder gesehen als mich selbst. Durch Zeit und Umgang gewöhnt man sich an alles Befremdende; aber je mehr ich mit mir umgehe und mich kennenlerne, je mehr erschrecke ich vor meiner Mißgestalt, je weniger kann ich mich in mich selbst finden.
Dergleichen Zufälle hervorzubringen und zu erzeugen ist ein Vorrecht des Ungefährs. Als ich vorgestern in ein Dorf kam, das ein paar Stunden weit von meinem Gute liegt, fand ich die Stätte noch ganz warm von einem Wunder, das daselbst gescheitert war; wodurch die Nachbarschaft seit mehreren Monaten hingehalten ward, weswegen schon die benachbarten Provinzen in Bewegung gerieten und Leute von allerlei Ständen in dichten Haufen herbeiliefen. Ein junger Mensch des Ortes hatte sich in einer Nacht in seinem Hause die Kurzweil gemacht, eine Geisterstimme nachzuäffen, ohne an etwas anderes dabei zu denken, als einen augenblicklichen Spaß zu machen. Da es ihm aber etwas besser glückte, als er erwartet hatte, so machte er, um der Posse mehr Hebel anzusetzen, mit einer Dirne aus dem Dorfe, einem gänzlich dummen unverständigen Dinge, Gesellschaft. Endlich vereinigten sich ihrer drei von ähnlichem Alter und ähnlicher Unverschämtheit zu diesem Spiel und wurden aus Hauspredigern öffentliche Prediger, versteckten sich unter dem Altar der Kirche, ließen sich nicht anders als bei Nacht hören und verboten, Licht herbeizubringen. Von Worten, welche auf die Bekehrung der Welt und Ankündigung des Jüngsten Tages hinausliefen (denn das sind Dinge, hinter deren Wichtigkeit und Heiligkeit der Betrug sich am leichtesten verbirgt), gingen sie zu einigen Erscheinungen und Spukereien über, die so einfältig und lächerlich waren, daß der Betrug für ein Kinderspiel fast zu grob gewesen wäre. Hätte indessen das Glück nur ein wenig hilfreiche Hand dabei leisten wollen, wer weiß, wie weit dies Gaukelspiel angewachsen sein würde? Jetzt sitzen die armen Teufel im Gefängnis, werden vermutlich die allgemeine Einfalt allein abbüßen müssen, und wer weiß, ob nicht irgendein Richter die seinige an ihnen rächen wird! Hier sieht man den dummen Betrug klar, weil er entdeckt ward; aber bei vielen ähnlichen Dingen, die unsre Kenntnisse übersteigen, wäre ich sehr der Meinung, wir hielten unser Urteil zurück und verwürfen ebensowenig, als wir billigten.
Es entsteht viel Mißbrauch in der Welt, oder dreister gesagt, aller Mißbrauch in der Welt entsteht daher, daß man uns lehrt, uns vor dem Geständnis unserer Unwissenheit zu fürchten, und uns anhält, alles für wahr anzunehmen, was wir nicht imstande sind zu widerlegen. Wir sprechen von allen Dingen in entscheidendem Ton. Der römische Kanzleistil erforderte, daß selbst dasjenige, was ein Zeuge mit seinen Augen gesehen zu haben versicherte und ein Richter nach seinem innigsten Wissen und Gewissen verordnete, mit der Formel ausgedrückt wurde: Mich deucht. Man bringt mir einen Widerwillen gegen die wahrscheinlichsten Sätze bei, wenn man mir solche als unfehlbar aufstellt. Ich habe gern solche Worte, welche die Verwegenheit unserer Behauptungen mildern und mindern: vielleicht, gewissermaßen, zum Teil, man sagt, ich glaube, und dergleichen. Hätte ich Kinder zu erziehen gehabt, ich würde ihnen alle diese Frageweise, nicht entscheidende Antworten in den Mund gelegt haben: Was will das sagen? Ich versteh‘ es nicht; es mag sein; ist das möglich? – wodurch sie viel mehr im sechzigsten Jahre die Sprache der Schüler geführt, als im zehnten Jahre die Lehrmeister gespielt hätten, wie sie jetzt tun. Wer sich von der Unwissenheit heilen will, muß sie eingestehen.
Iris ist Thaumantis Tochter. Bewunderung ist der Grund aller Philosophie, Nachforschung ihr Fortschritt, Unwissenheit ihr Ende. Ja, es gibt eine tapfre, edelmütige Unwissenheit, welche an Ehre und Kühnheit der Gelehrsamkeit nichts nachgibt, eine Unwissenheit, welche an sich zu erkennen nicht wenig Gelehrsamkeit erfordert als die Erkenntnis der Gelehrsamkeit. Ich sah in meiner Kindheit einen Rechtshandel über einen sonderbaren Vorfall, welchen Corras, Parlamentsrat von Toulouse, drucken ließ. Zwei Menschen nämlich machten Anspruch darauf, eine Person zu sein. Ich erinnere mich noch (weiter aber erinnere ich mich auch nichts mehr), daß es mir damals so vorkam, derjenige, welcher für strafbar erklärt wurde, habe seinen Betrug so wunderbar, so weit über unsere Einsicht und die Einsicht dessen, welcher Richter war, getrieben, daß ich den Ausspruch sehr gewagt fand, der ihn zum Strange verurteilte. Laßt uns doch eine Urteilsformel einführen, welche sagt: Der Gerichtshof sieht die Sache nicht ein. Alsdann verfahren wir freimütiger und offenherziger als Areopagiten, welche, da man in sie drang, über eine Sache abzuurteilen, die sie nicht zu entwickeln vermochten, den Bescheid gaben, die Parteien sollten nach hundert Jahren wieder vorsprechen.
Die Hexen in meiner Nachbarschaft geraten in Lebensgefahr durch die Lehren jedes neuen Schriftstellers, der Träume für Tatsachen ausgibt. Die Beispiele, welche uns die Heilige Schrift von dergleichen Dingen gibt, diese sehr gewiß und unwidersprechlichen Zeugnisse, auf unsere neueren Vorfälle anzuwenden, von denen wir doch weder Ursachen noch Mittel sehen, dazu gehört ein höherer Verstand als der unsrige. Es ziemt vielleicht nur diesem einzigen allmächtigen Zeugnis, uns zu sagen: Dieses ist Zauberei und dieses, jenes aber ist es nicht. Gott selbst müssen wir glauben, nichts ist vernünftiger, aber nicht jemanden unter uns, der sich über seine eigene Erzählung verwundert (und notwendigerweise darüber verwundern muß, wenn er nicht ganz von Sinnen ist), er mag nun die Handlung eines andern oder seine eigene berichten.
Ich bin schwerfällig, halte mich ein wenig an das Vollwichtige und Wahrscheinliche und suche den alten Vorwurf zu vermeiden:
Majorem fidem homines adhibent iis, quae non intelligunt. – Cupidine humani ingenii libentius obscura creduntur.
Ich sehe wohl, daß man in Zorn gerät und mir unter Bedrohung entsetzlicher Schmachreden zu zweifeln verbietet. Das ist eine neue Art zu überzeugen; aber gottlob, daß mein Glaube sich nicht mit Faustschlägen lenken läßt! Mögen sie diejenigen züchtigen, welche ihre Meinung der Falschheit beschuldigen. Ich halte solche nur für schwer und kühn zu glauben und verwerfe ebensowohl als sie die Behauptung des Gegenteils, nur nicht gerade so gebieterisch. Wer seine Meinung durch Befehl und Gebot durchsetzen will, beweist dadurch, daß sie auf schwachen Gründen beruhen müsse. Kommt es auf ein Wort- und Schulgezänk an, so mögen sie ebensoviel Schein für sich haben als ihre Gegner.
Videantur sane, non affirmentur modo.
Aber in den wesentlichen Folgerungen, welche sie daraus ziehen, haben jene den Vorteil für sich. Menschen zu töten, dazu gehört eine lichtvolle, reine Einsicht, und unser Leben ist eine zu wesentliche wirkliche Sache, um es wegen solcher übernatürlichen phantastischen Begebenheiten zu verkürzen. Von Vergiftungen mit schädlichen Dingen spreche ich hier nicht; die sind Menschenmord, und zwar von der schändlichsten Gattung. Gleichwohl sagt man, müsse man selbst dabei sich nicht allemal auf das eigene Geständnis dieser Art Menschen verlassen; denn man hat mehr als einmal erlebt, daß sie sich anklagten, Personen ums Leben gebracht zu haben, welche man gesund und lebendig fand. Was andere seltsame Beschuldigungen betrifft, darauf möchte ich gern sagen, es sei genug, daß man einem Menschen von noch so unbescholtenem Charakter in menschlichen Dingen Glauben beimesse. In übernatürlichen Dingen aber kann er nur dann Glauben verlangen, wenn er dazu mit einer übernatürlichen Vollmacht ausgerüstet ist. Dieses Vorrecht, wovon es Gott gefallen hat, solches einigen unserer Zeugnisse beizulegen, muß nicht herabgewürdigt oder leichtsinnigerweise eingeräumt werden. Mir gellen die Ohren von Tausenden dergleichen Sagen: Drei Personen haben ihn an dem und dem Tage im Morgenland gesehen, drei andre am folgenden im Abendland; um diese Stunde, an diesem Ort, so und so gekleidet. Wahrhaftig, das glaubt‘ ich mir selbst nicht! Warum sollte ich es nicht viel natürlicher und wahrscheinlicher finden, daß zwei Menschen lügen, als daß ein Mensch, innerhalb zwölf Stunden, mit der Eile des Windes von Morgen nach Abend komme? Warum nicht natürlicher, daß unser Verstand aus seiner Stelle verrückt werde, durch die Behendigkeit unseres verrückten Geistes, als daß einer von uns auf einem Besen durch die Luft reite, bei lebendigem Leibe durch seinen Schornstein hinausfahre und von einem fremden Geist fortgeführt werde? Wozu das Suchen nach unbekannten Täuschungen von außen, da wir ja unaufhörlich von innen und von sehr naheliegenden Dingen getäuscht werden! Mich deucht, es sie verzeihlich, ein Wunderwerk zu bezweifeln, zum wenigsten so lange, als man seine Wahrheit mit natürlichen, nicht wunderbaren Mitteln bestreiten kann, und bin hierin der Meinung des heiligen Augustin: es sei besser, bei Dingen, welche schwer zu beweisen und gefährlich zu glauben sind, auf die Seite des Zweifels zu neigen als auf die Seite der Leichtgläubigkeit. Es sind einige Jahre her, daß ich durch die Länder eines souveränen Fürsten reiste, der, um mir eine Gunst zu erzeigen und meinem Unglauben einen Stoß zu versetzen, die Gnade hatte und mir, in seiner Gegenwart, an einem abgelegenen Ort zehn bis zwölf Gefangene von dieser Gattung vorführen ließ; unter andern eine alte Frau, die durch ihre Häßlichkeit und Mißgestalt freilich hexenmäßig genug aussah und von langen Zeiten her dieser Profession wegen berüchtigt war. Ich fand Beweise, freies Bekenntnis und ich weiß selbst nicht was für unmerkliche Kennzeichen an diesem beklagenswürdigen Weib und erkundigte mich und sprach so viel ich wollte, wobei ich auf alles, soviel wie möglich, die genaueste Aufmerksamkeit hatte. Auch bin ich nicht der Mensch, der sich den Verstand durch Vorurteile umwenden läßt. Kurz und gewissenhaft zu sagen: ich hätte ihr viel eher Nieswurz als einen Schierlingstrank verordnet.
Captisque res magis mentibus, quam consceleratis, similis visa.
Die Gerechtigkeitspflege hat ihre eigenen Heilmittel gegen solche Krankheiten. Die Gegengründe und Beweise, welche mir sehr ehrliche Leute sowohl dort als anderwärts oftmals anführten, haben mich niemals überzeugt, und immer fand ich eine wahrscheinlichere Auflösung als die ihrige. Freilich ist es wahr, daß ich die Beweise und andere Rechtsgründe, welche auf Erfahrungen und Tatsachen beruhen, nicht entwickeln mag. Auch haben sie kein Ende, wobei man sie angreifen könnte. Oft zerhaue ich sie wie Alexander seinen Knoten. Mit einem Wort gesagt, es heißt seine Vermutungen hoch anschlagen, wenn man um ihretwillen einen Menschen lebendig braten läßt.
Man erzählt verschiedene Beispiele der Art, wie Prästantius von seinem Vater anführt, daß solcher in einem tiefen bleiernen Schlafe geträumt habe, er sei ein Maultier und trage seiner Soldaten Gepäck, und es sei wahr gewesen, was ihm geträumt. Wenn die Hexenmeister so wirklich und wesentlich träumen, wenn die Träume sich zuweilen in Tatsachen einverleiben können, so glaube ich dennoch nicht, daß unser Wille deswegen der Gerechtigkeit verantwortlich würde. Dies sage ich als ein Mensch, der kein Richter oder Rat der Könige ist, auch sich dessen bei weitem nicht würdig hält, sondern als ein gemeiner Mensch, der zum Gehorsam gegen die öffentlichen Gesetze geboren und verpflichtet ist, sowohl in seinen Taten als in seinen Worten. Wer auf meine Träumereien zum Nachteil des geringsten Gesetzes seines Dorfes oder dessen Meinung, Gebrauch und Herkommen, Rücksicht nehmen wollte, der täte sich selbst sehr unrecht und mir ebensoviel; denn in allem, was ich sage, gebe ich keine andere Gewißheit, als daß es das ist, was mir, als ich es sagte, wirklich in Gedanken war, und meine Gedanken sind oft herumirrend und schwankend. Ich spreche von allem, um meine Meinung an den Tag zu legen, nicht um Belohnungen zu erteilen.
Nec me pudet, ut istos, fateri nescire, quod nesciam.
Ich wäre in meinem Sprechen nicht so keck, wenn ich der Mann wäre, dem Glauben gebührte. Das war es, was ich einem Großen antwortete, der sich darüber beklagte, daß ich mit meinen Vermahnungen so dringend und anhaltend wäre. Da ich finde, daß ihr auf einer Seite so stark im voraus eingenommen seid, so stelle ich euch auf der andern, soviel ich kann, das Gegenteil vor, um euren Urteil aufzuklären, nicht um ihm eine Richtung zu geben. Gott hat euer Herz in Händen und wird eure Wahl leiten. Ich bin kein so eingebildeter Mensch, daß ich nur einigermaßen verlangen sollte, meine Meinungen möchten eine Sache von solcher Wichtigkeit lenken und wenden. Zu solchen wichtigen und hohen Entscheidungen hat mein Glück und meine Umstände sie nicht abgerichtet. Wirklich habe ich nicht nur verschiedene Züge der Gemütsart an mir, sondern auch Meinungen genug, welche ich gern meinem Sohn zuwider machen möchte, wenn ich einen hätte. Sind doch die wahrsten nicht immer die angenehmsten für den Menschen, der so unbiegsamer Natur ist.
Hier gelegentlich oder nicht gelegentlich, gleichviel. Der Welsche hat ein Sprichwort, welches ungefähr so lautet: Der kennt nicht die Süßigkeit ganz, die Venus gewähren kann, der noch keine Hinkende erkannt hat. Zufall oder eine sonderbare Begebenheit haben dies Sprichwort vor langer Zeit schon zu einer Volkssage gemacht, und man braucht es zugleich vom männlichen und weiblichen Geschlecht. Denn die Königin der Amazonen antwortete dem Skythen, der ihrer in Liebe begehrte: Ἂριστα χωλος οἰφει, Der Hinkende kann’s am besten. In dieser weiblichen Republik lähmte man, um der männlichen Herrschaft zu entgehen, dem männlichen Geschlecht von Kindheit an Arme, Beine und andere Glieder, wodurch solches Vorteile über das weibliche gehabt hätte, und bediente sich desselben bloß zu solchen Diensten, wozu wir uns des weiblichen Geschlechts bedienen. Ich hätte geglaubt, die unordentliche Bewegung einer Hinkenden gäbe dem Liebeswerke ein neues Vergnügen und denen, die es versuchten, irgendeinen wollüstigen Reiz mehr; aber ich habe eben gelernt, daß selbst die Philosophie des Altertums darüber entschieden hat. Diese sagt: weil die Beine und Hüften der Hinkenden wegen ihrer Unvollkommenheit die Nahrungssäfte nicht verbrauchen, die ihnen bestimmt sind, so wären daher die Teile über solchen vollständiger, genährter und rüstiger; oder auch, weil diese Gebrechen sie verhindern, sich viel zu bewegen, so verbrauchten diejenigen, welche damit behaftet wären, weniger Kräfte, die sie dann reichlicher bei der Feier der Venus anwenden könnten. Das war auch die Ursache, warum die Griechen ihren Weberinnen nachsagten, sie wären mehr zur körperlichen Liebe geneigt als andere Weiber, wegen ihrer stillsitzenden Lebensart, wobei sie wenig Bewegung hätten. Aber worüber können wir nicht vernünfteln, wenn wir diese Art zu schließen brauchen wollen? Von den letzten ließe sich ebensogut sagen, die Erschütterung, welche ihnen ihre sitzende Arbeit gibt, errege und reize sie, wie bei vornehmen Frauen das Rütteln und Schütteln ihres Fuhrwerks.
Beweisen diese Beispiele nicht, was ich eingangs sagte, daß unsere Gründe oft den Wirkungen vorauslaufen und eine so unendliche Gerichtsbarkeit in Anspruch nehmen, daß sie über Undinge und Nichtigkeiten urteilen und erkennen? Außer der großen Gewandtheit unserer Erfindungskraft; für alle Arten von Träumereien Gründe aufzusuchen, ist auch unsere Einbildungskraft bereit und willig, einen falschen; Eindruck vom allerunbedeutendsten Scheine anzunehmen. Denn auf die bloße Autorität dieses alten bekannten Sprichworts habe ich mir vordem wohl aufgebunden, ich hätte deswegen mehr Vergnügen bei einer Frau empfunden, weil sie im sizilianischen Sechsachteltakt ging, und setzte solches mit unter ihre Reize.
Torquato Tasso sagt in seiner Vergleichung, die er zwischen Italien und Frankreich anstellt, er habe bemerkt, daß wir dünnere Waden haben als die Welschen von Adel, und gibt als Ursache davon an, daß wir unaufhörlich zu Pferde sitzen. Aus ebendieser Ursache zieht aber Suetonius eine ganz entgegengesetzte Folgerung. Denn er sagt dawider: Germanicus habe seine Waden dadurch völlig gemacht, daß er anhaltend geritten sei. Nichts schmiegt sich so leicht an alle Irrtümer als unser Verstand. Er ist wie der Schuh des Theramenes, der jedem Fuße paßt. Und er ist doppelt und vielfach, wie die Materie doppelt und vielfach ist. »Gib mir eine Drachme Silbers«, sagt ein kynischer Philosoph zum Antigonus. »Das ist kein Geschenk, das ein König gibt«, antwortete dieser. »Nun, so gib mir ein Talent.« »Das ist kein Geschenk für einen Kyniker.«
Seu plures calor ille vias et caeca relaxat
Spiramenta, novas veniat qua succus in herbas:
Seu durat magis, et venas adstringit hiantes;
Ne tenues pluviae, rapidive potentia solis
Acrior, aut Boreae penetrabile frigus adurat.
Ogni medaglia ha il suo riverso.
Darum sagte Clitomachus vor alters, Carneades habe die Arbeiten des Herkules übertroffen, indem er den Menschen ihren Beifall entrissen habe, das heißt die Einbildung und die Verwegenheit ihrer Urteile. Diese herzhafte Unternehmung ging Carneades, meiner Meinung nach, damals deswegen ein, weil die Leute, welche ein Gewerbe daraus machten, alles zu wissen, gar zu unverschämt waren und sich übermäßig viel herausnahmen. Man bot den Aesop neben zwei andern Sklaven aus. Der Käufer erkundigte sich bei dem ersten, was er verstände. Dieser, um sich einen Wert zu geben, versprach goldne Berge und wußte das und wußte jenes. Der zweite versprach ebensoviel und noch mehr von sich. Als die Reihe an den Aesop kam und man ihn auch fragte, was er denn könne, antwortete er: »Nichts; denn die da haben mir ja alles weggenommen, sie wissen alles.« So ging es in den Schulen der Philosophie. Der Stolz derjenigen, welche dem menschlichen Geist die Fähigkeit alles zu umfassen zuschreiben, veranlaßte bei andern aus Ärger und Eifer die Meinung, daß sie gar nicht fähig wären, etwas zu fassen. Dergestalt übertrieben sie ihre Unwissenheit ebensosehr als andere ihr Vielwissen, damit man nicht leugnen könne, der Mensch halte in keinem Dinge weder Ziel noch Maß und habe keine Ruhe, bis Not und Unvermögen ihn stille stehen heißen.
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Anmerkung der Redaktion: Würde Michel de Montaigne im 21. Jahrhundert leben, so er wäre wahrscheinlich der beliebteste Blogger. Nicht nur in Frankreich. Wir kommen ihm näher, indem wir seine Essais lesen. Und zwar Wort für Wort. Oder wir nehmen einen charmanten Umweg und lesen Sarah Bakewells Wie soll ich leben?. Dies ist nicht nur der Titel ihrer ungewöhnlichen Biographie, sondern zeigt zugleicht die Methode an, mit der sich die Autorin dem Denken Montaignes nähert.
Weiterführend → Lesen Sie auch einen KUNO-Beitrag zu Gattung des Essays.