„Begründe dein eigenes Glück!“, sprach eine Stimme über mir, ich drehte mich um und schaute hinauf. Das Fenster war halb geöffnet, das Holz der Fensterläden reflektierte die Stimme aus dem Innern. „Lebe deine Natur aus gegen den Irrsinn der Gesellschaft!“ Sprach er mit mir oder mit sich selbst? Vielleicht schrieb er ein neues Manuskript und sprach den Text des Geschriebenen, um die Satzmelodie zu prüfen. Ich drehte mich, als ich die kleine Straße hinauf zum Boulevard Saint-Germain ging, nach ein paar Schritten noch einmal um. Fenêtre à droite, premier étage. Der linke Fensterladen schlug gegen die Mauer, Giono lehnte sich aus dem Fenster und sah mir nach. Er lächelte. Ich lächelte zurück, zog die Hand aus der Tasche und hob sie über die Hüfte zum Gruß … Ich lief an der Brasserie Lipp vorbei und schaute hinüber zu den beiden Cafés, dachte an nichts, bog in die Rue Bonaparte ein. Bald stand ich am Brunnen von St. Sulpice und schaute ins glitzernde Wasser – Glas floss über die glatten Steinkanten zwischen den Löwen. Alles war so durchsichtig, das Leben so leicht, so genau wie die Architektur des Brunnens, so mächtig und klar wie die Fassade der Kirche mit den zwei Türmen, vollendet der eine, der andere unbehauen wie die Porta Nigra. Hinter den Säulen lag die Zeit. Ich ließ den Brunnen hinter mir und durchquerte den armseligen Eingang im rechten Teil des gewaltigen Porticus. Ich betrat die Zeit und lief halb blind einige Schritte zur Kirchenmitte. Hinter mir schlug dumpf die Tür zu. Ich schaute mich um, stieß gegen einen Körper, stolperte, eine Hand griff nach mir. „Fallen Sie nicht!“, sagte eine helle Stimme. Ich blickte in zwei schwarze Augen. Ein Licht aus dem Nichts lief über mich. Unmessbarer Augenblick und spürbares Parallelenaxiom, war später mein Gedanke. Ich war aus der Zeit herausgefallen, aber der Ort blieb, ich erlebte etwas, das ich noch nicht erfahren hatte, ich nahm es vorweg, ohne es zu ahnen, wusste ohne zu wissen, erkannte und vergaß im selben Moment. „Komm“, sagte sie. Sie zog mich in den Mittelgang des hohen Schiffs, ich ließ es mir gefallen, ich sah sie von der Seite an, sie hatte ihre schwarzen Haare hochgesteckt, das Gesicht leicht zu mir gedreht. Die schwarzen Augen auf mich gerichtet, ging sie leicht federnd bis zur Mitte der Kirche und blieb stehen, ich sah hinauf zur Kuppel, vor uns der Altar, rechts das große Glasfenster, hier fielen die Strahlen der Mittagssonne ins Innere, ich sah zu Boden, da war die goldene Spur, die Messingschiene, die rechts ins Sommerquadrat führte, links zum Obelisken, unterhalb der Spitze das Winterzeichen. Vor uns die Marmorstufen zum Altar. Ich wollte nach links, aber sie hielt mich fest. „Komm“, sagte sie. Sie führte mich über die Mittagslinie, stieg in den Altarkreis, bückte sich unter die rote Kordel der Absperrung, aber ich sah nur sie und bückte mich auch. Keiner in der fast leeren Kirche bemerkte, wie wir zum Altar gingen. Sie zog das Altartuch tiefer, bis es den weißen Steinboden berührte. „Hier sind wir sicher“, sagte sie. Ich: unterfordert? Von wem? Von der Welt, der ich mich stelle, oder von mir selbst? Und du meinst, vielen geht es so? Ich denke, es liegt nicht an der Welt, sondern oft an zu leichtem Aufwachsen. Bei mir weiß ich es nicht. Vielleicht Veranlagung. Phlegma. Scheu vor der Ebene? Das Wichtigste ist, du lebst gern. Wenn das so ist, dann ist jede Lebensart schon dadurch gerechtfertigt. So bin ich gestrickt. Ich wälze Wörter, jongliere mit ihnen, spiele in den Wortfeldern, pflüge sie um, reime auf Teufel komm raus, spiele und suche mein Glück im Erzeugen von Wortgefüge und Sinnfugen.
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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022
Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.
Weiterführend →
Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.