Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben, würde mehr riskieren.
Ich würde mehr reisen,
mehr Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich würde an mehr Orte gehen, wo ich vorher noch nie war.
Ich würde mehr Eis essen and weniger dicke Bohnen.
Ich würde mehr echte Probleme als eingebildete haben.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten.
Freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen,
nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben,
nur aus Augenblicken.
Vergiß nicht das Jetzt!
Ich war einer derjenigen, die nirgendwo hingingen
ohne ein Thermometer,
eine Wärmeflasche,
einen Regenschirm und Fallschirm.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich leichter reisen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Ich würde mehr Karussel fahren,
mir mehr Sonnenaufgänge ansehen
und mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie…
ich bin 85 Jahre alt und weiß,
daß ich bald sterben werde.
***
Jorge Francisco Isidoro Luis Borges Acevedo verfasste eine Vielzahl phantastischer Erzählungen und Gedichte und gilt als Mitbegründer des Magischen Realismus. Ein wiederkehrendes Thema sind Bücher, die Borges immer wieder zu den Hauptfiguren seiner Geschichten machte (z. B. in Die Bibliothek von Babel, Das Sandbuch, Untersuchung des Werks von Herbert Quain, Der Weg zu Amotásim, oder Tlön, Uqbar, Orbis Tertius). Oft geht von diesen Büchern eine phantastische Macht aus, die an den Grundfesten der Realität rüttelt, diese verändert oder gänzlich eigene Realitäten hervorbringt. Parallel dazu sind Borges’ Erzählungen bevölkert von bibliophilen und belesenen Hommes de lettres, die sich mit obskuren Schriften oder Enzyklopädien auseinandersetzen bzw. diese verfassen. Das genüssliche Zitieren oder Erwähnen von realen und fiktiven Büchern inklusive der Angabe von Ort und Veröffentlichungsdatum ist ebenfalls ein Charakteristikum seiner Erzählungen.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.