Begegnungsorte

 

Unter „Begegnungsorte“ verstehe ich nicht nur Orte im topographischen Sinn, sondern ich meine damit auch Orte und Gelegenheiten, die im Rahmen einer Gemeinschaft Begegnungen, Kontakte, Sich-Kennenlernen ermöglicht und oft Beziehungen oder sogar Freundschaften begründet haben. Solche Begegnungsorte können natürlich wie im ursprünglichen Sinn des Wortes einen Ortsnamen haben, aber ebenso den einer Institution, einer Einrichtung, einer Veranstaltung. Es waren und sind immer auch Gemeinschaften, zu denen ich gestoßen bin und in die ich dann bei Gemeinschaftsbereitschaft auch integriert wurde. Ein wesentliches Moment dabei ist die Kontinuität, die durch die regelmäßige Wiederholung der Begegnungen entsteht und Vertrautheit erzeugt. Man kennt einander schon und weiß, wer der oder die andere ist. Auch eine Gesinnungsgemeinschaft auf einer gemeinsamen Basis und das sich dadurch ergebende Einander-Verstehen auf einer einander verbindenden Ebene ist wichtig. Bei mir war all dies dadurch begünstigt, daß ich jemand bin, der nicht verschlossen und in sich eingesperrt ist, sondern der offen auf die Menschen zugeht und ihnen sowohl mit Interesse als auch mit Vertrauen begegnet. Das macht wirkliche, echte und tiefere Begegnungen überhaupt erst möglich. Aus solchen Begegnungen resultieren dann neue Begegnungsmöglichkeiten, sodaß sich daraus eine Kette von neuen Beziehungen bildet. Über Jahre und Jahrzehnte entsteht so eine Topographie, bei mir eine Liste, wann und wo ich mit wem gewesen bin. Auch meine dabei gemachten Fotos, oft Porträtfotografien, sind nicht nur Relikte von solchen Begegnungen, sondern ebenso wichtige Erinnerungszeugnisse, an denen ich schließlich meine Lebensepochen ablesen kann. Und aus all dem sind auch meine Bücher in den verschiedensten Sprachen entstanden. Es ist ein Netz, das sich über alles legt, mich und mein Leben mit eingeschlossen.

Meine topographischen Erinnerungsorte haben die Namen: Drosendorf, Ottenstein, Pulkau, Fresach, Bratislava, Presov, Kosice, Prag, Slovenj Gradec, Maribor, Bled, Ljubljana, Zagreb, Dubrovnik, Hvar, Sarajevo, Mostar, Struga, Tetovo, Skopje, Sofia, Bukarest, St. Petersburg, Moskau, London, Paris, Brüssel, Rom, Hamburg, Magdeburg, Helsinki, Wroclaw/Breslau, Warschau, Monasterevin, Dublin, Istanbul, Jerusalem, Budapest und immer wieder Wien. Davon zeugen die Publikationsorte meiner Gedichtbände und die Beschriftungen auf der Rückseite meiner Fotografien. Ausgebreitet liegen jetzt mit meinen siebzig Jahren die Ereignisse, Begegnungen, Erinnerungen an diese Orte, an Menschen, die ich dort getroffen habe und mit denen ich dort zusammengewesen bin, vor mir. Das ist schön, es bereichert mich, auch in meinen Erinnerungen, jetzt da ich älter geworden bin; und diese Landkarte zeigt mir, was einmal gewesen ist, was einmal mit mir war.

Begegnungsorte in diesem Sinne waren für mich der Österreichische P.E.N.-Club und der International PEN, denen ich von 1980-2010 angehörte, mit den vielen Veranstaltungen, Tagungen, Meetings, Konferenzen, Kongressen, die für mich eine wichtige Ebene waren, auf der ich mich bewegte und wo ich Kolleginnen und Kollegen aus vielen Ländern kennenlernte. Immer wieder kam es da zu neuen Kontakten, zu wichtigen Begegnungen, es entstanden Beziehungen, oft über viele Jahre hinweg, ja sogar echte Freundschaften, die mich mit manchen noch immer verbinden. Drehscheibe dieser Begegnungen war vor allem der slowenische, wunderschön am See gelegene Ort Bled, gleich südlich der Kärntner Karawankengrenze. In diesem Ambiente und in der entspannten Atmosphäre, in die ich auch das Politische miteinbeziehen möchte – Jugoslawien war ja ein blockfreier Staat und nicht beim Warschauer Pakt -, waren Begegnungen mit Personen möglich, die es woanders in der Form nicht gegeben hätte, nicht hätte geben können, jedenfalls nicht zu dieser Zeit. Ich ging auf alle meine KollegInnen stets mit offenen Armen zu, gleichsam sie umarmend, ausgenommen gewisse Schriftsteller, denen ich nicht traute, weil ich sie eher einem (geheimen) Funktionärskader als der Literatur zurechnete. Aber das nur so nebenbei. Da ich in den frühen Sechzigerjahren schon das Land Jugoslawien kreuz und quer bereist hatte, mich in dem Land – jedenfalls geographisch und was die Balkanmentalität betrifft – ganz gut auskannte und auch etwas Serbokroatisch gelernt hatte, konnte ich mich dort gut bewegen. Ich war auch schon 1961 sowohl in Kroatien, Montenegro sowie in Bosnien-Herzegowina, in Mostar und Sarajevo, gewesen, später dann auch in Serbien und Makedonien, sodaß mir vieles, was anderen noch fremd war, wenigstens in der Kenntnis davon vertraut war. Auch mit der Sprache tat ich mich nicht schwer. Und egal aus welchem Land ein Kollege oder eine Kollegin stammten und welcher Ideologie sie anhingen, so sah ich doch zuerst einmal den Menschen, nicht einmal so sehr den Schriftsteller oder Intellektuellen und das, was immer er tat. Das erleichterte vieles, machte es möglich. Und ein wichtiges Instrument meiner Kontakterschließung war auch mein Fotoapparat, den ich ständig bei mir hatte. Ich fotografierte alle, die ich traf und die es mir erlaubten; ich machte viele Porträts, die ich ihnen dann später schenkte. Dadurch bekam ich auch Namen und Adressen vieler. Und es entstanden Korrespondenzen zwischen uns. Bald war ich, egal ob bei PEN-Konferenzen in Dubrovnik, Helsinki, Prag oder Warschau, als Peter Paul, der Fotograf bekannt und als solcher gern gesehen und vielen vertraut. Man bedankte sich bei solchen Gelegenheiten auch gerne für die, wie sie alle sagten, wunderbaren Fotos, „die besten, die je von ihnen gemacht worden waren“. Das freute mich und ermöglichte weitere Kontakte. Es ist immer das Bild und nicht das Wort, das uns als erstes trifft und etwas aussagt über einen Menschen. Denn, wie meine alte Mutter immer sagte: „Geredet ist leicht was“. Das Gesicht aber verbirgt nichts, in und aus ihm kann man viel mehr herauslesen, als man aus allen Gesprächen heraushören kann und aus all den oft sowieso nur floskelhaft hingesagten Worten mitbekommt. So war und ist noch immer für mich der Fotoapparat ein Instrument nicht nur für das Abbilden, sondern auch für das damit verbundene intensive Schauen im Sinne eines Einblicks in eine Person; eine unvergleichliche Methode des Erkennens und der Erkenntnis. „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, heißt es im Volksmund. Und das stimmt auch.

Ein zweiter wichtiger Begegnungsort war der legendäre „Morgen-Kreis“ (1980-1990), der sich, ohne daß er als solcher gegründet worden wäre, rund um den leider viel zu früh verstorbenen ungarisch-österreichischen Schriftsteller, Kulturwissenschaftler, PEN-Präsidenten und Freimaurer Professor György Sebestyén und die von ihm als Chefredakteur redigierte Nö-Kulturzeitschrift „morgen“ gebildet hatte. In diesem Morgen-Kreis und im Rahmen der alle zwei Jahre stattfindenden einwöchigen Symposien, zuerst in Drosendorf, dann in Ottenstein in NÖ, trafen einander Künstler und Wissenschaftler aus den verschiedensten Sparten und Fachgebieten, Intellektuelle und Weltverbesserer, in einer wunderbaren, freundschaftlichen Verbundenheit zum Gedankenaustausch über Gegenwart und Zukunft. Dazu gehörte dann als Begegnungsmöglichkeit der von mir gegründete „Morgen-Kreis-Stammtisch“ im geschichtsträchtigen Gasthaus „Zu den drei Hacken“ in der Singerstraße in Wien, der an jedem Montag ab 19 Uhr stattfand und zu dem immer wieder neue Persönlichkeiten, auch aus dem Ausland, dazustießen und miteinbezogen wurden. Es war eine wunderbare Gemeinschaft von in einer Art Wertegemeinschaft miteinander freundschaftlich verbundenen Gesinnungsgefährten. Etwas, das es für alle, die daran teilnahmen, wahrscheinlich so in ihrem Leben noch nie gegeben hatte. Mit Sebestyéns Tod war dann alles zu Ende. Es gab keine gemeinsamen Treffen, keinen Gedankenaustausch, keine Beziehungen untereinander mehr; der Kreis der Freundschaft zerriß. Und jeder war wieder allein. Wenn man nachher irgendwo aufeinander traf, dann sprach man von „damals“; wehmütig und dankbar. Und der György Sebestyén, der es in unnachahmlicher Weise verstanden hatte, uns als „die richtigen Leute“, zusammenzubringen, war dann im Gespräch plötzlich wieder da, man erinnerte sich seiner, manchmal sogar mit einer gewissen Wehmut und Traurigkeit, aber stets in einem Gedenken der Freundschaft und Dankbarkeit. Was vom Morgen-Kreis übriggeblieben war und in Freundschaft miteinander verbunden blieb, auch bis heute, das traf sich manchmal zu gewissen Anlässen, leider auch zu traurigen, wie zum Beispiel beim Begräbnis unserer Freunde Alexander Sixtus von Reden und Kurt Kramer. Manchmal begegne ich noch einem oder einer vom Morgen-Kreis. Dann stellen wir fest, daß seither zwar Jahrzehnte vergangen und wir älter geworden sind, daß aber diese Lebensverbundenheit in uns noch immer vorhanden ist. Also, lieber Sebestyén, laß Dir dafür danken; in den Himmel hinauf oder wo immer Du sein magst. Auf jeden Fall bist und bleibst Du in unserer Erinnerung, solange wir leben.

Ein anderer Begegnungsort war für mich der „Literaturkreis Podium“, in dem sowohl Mitglieder des PEN als auch der GAV friedlich beisammen waren. Das war zu der Zeit nicht selbstverständlich. Es gab sogar Momente, wo sich die beiden Lager und auch diverse Mitglieder prinzipiell mit Vorbehalten, ja sogar in einer gewissen Feindseligkeit, auf jeden Fall aber mit einem gewissen Mißtrauen gegenüber standen. Im „Podium“ war das nicht so, da war alles ausgeglichen, da zählte eine Mitgliedschaft bei einem anderen Verein nicht. Das „Podium“ waren wir Podium-Leute. Aus und Schluß! Und auch da versammelten wir uns um einige Personen, die nicht nur unsere Kollegen und Kolleginnen, sondern als Gründer des Vereins auch unsere Mentoren und manche sogar unsere Freunde waren. Ich nenne nur ein paar Namen: Wilhelm Szabo, Alfred Gesswein, Alois Vogel, Christine Busta, Doris Mühringer, Jeannie Ebner, Ilse Tielsch, Franz Richter, Albert Janetschek, Paul Wimmer, Hermann Jandl, Manfred Chobot, Peter Henisch, Helmut Peschina, Helmuth Niederle, Nils Jensen, Gottfried Stix. Ich bin seit dreißig Jahren Mitglied in diesem Verein. Wichtig waren vor allem die gleichnamige Zeitschrift, die Podium-Gedichtbände in der „Grasl-Reihe“, später die „Podium-Porträts“, waren die Lesungen, auch jene in der „Kleinen Galerie“ in Wien, waren die Symposien in Pulkau, wo der Alois Vogel wohnte; und wichtig war auch nicht zuletzt die Bindung an Niederösterreich und die Unterstützung von dorther. Schön waren damals die Runden nach den Veranstaltungen in diversen Gasthäusern, wie zum Beispiel im „Koranda“ in der Wollzeile, oder anderswo; in Gasthäusern, die es längst nicht mehr gibt. Eine Gruppe engagierter Kolleginnen und Kollegen aber führt den Literaturkreis weiter, im alten Sinn aber mit frischem Wind; und vor allem mit viel Engagement und großem persönlichem Einsatz; ohne den geht nämlich gar nichts!

Begegnungsorte waren auch die „Struga Poetry Evenings“ in Makedonien, an denen ich dreimal teilnahm (1982/1983/1989), sowie die „Sarajevo Poetry Days“ (1986/1989/1996) und die erste European Regional PEN-Conference in Sarajevo nach dem Krieg und der Belagerung dann im Jahr 2000. Ebenso die vielen Meetings in Kroatien, in Zagreb, Split und Dubrovnik. Dazu kamen noch die Schriftstellertreffen auf Schloß Budmerice, in Trencianske Teplice oder in Bratislava, bei denen ich mit dabei war. Vor allem aber war immer wieder Slowenien (Bled) die Drehscheibe für meine Kontakte, Begegnungen, Beziehungen. Aber auch Prag spielte eine wichtige Rolle. Und nicht zuletzt waren es andere internationale Meetings und die Weltkongresse des International PEN in Städten wie Prag, Helsinki, Warschau und Wien. Von allen diesen Treffen gingen für mich Impulse aus. Viele der dort geknüpften Kontakte, manche noch vor der sogenannten „Wende“, also dem Zusammenbruch des Kommunismus und seiner Regime in Europa, wurden insofern fruchtbar, als meine Freunde und KollegInnen eine Brückenfunktion in ihre Länder durch Einladungen zu Aufenthalten und Regionalveranstaltungen dort (z.B. Monasterevin und Dublin) übernahmen; auch in publizistischer Hinsicht, weil manche KollegInnen meine Gedichte übersetzten und wir daraus ein Buchprojekt realisierten. Daher erklären sich die vielen fremdsprachigen Publikationen meiner Lyrikbände. Für Österreich waren von Anfang an die internationalen Schriftstellertagungen in Fresach in Kärnten sowie die Morgen-Kreis-Treffen und die Podium Symposien in Pulkau in Niederösterreich für mich wichtig und ein Fenster zur (literarischen, zur künstlerischen) Außenwelt überhaupt. Meine Mitgliedschaften bei verschiedenen literarischen Vereinigungen wie dem Österreichischen P.E.N.-Club, dem Österreichischen Schriftstellerverband, dem Literaturkreis Podium, der europäischen Autorenvereinigung „Die Kogge“ (Minden/Deutschland) gab es ja eigentlich erst relativ spät, also da ich schon jenseits der Vierzig war. Vorher verkehrte ich, sowie auch später lange noch und dies bis heute, viel mehr in Kreisen der Bildenden Kunst. Die Theaterwissenschaft und überhaupt meine Jahre an der Wiener Universität aber zählten gar nicht. Da war ich sowieso völlig isoliert und bewegte mich auf für mich falschem Terrain. Ich war nicht zum Wissenschaftler geboren, der Umgang mit lebendigen Menschen entsprach mir viel mehr; und meine Gedichte waren sowieso eine „Rebellion gegen die Einsamkeit“ (Sebestyén). Auch meine sieben Jahre als Leiter der Kleinen Galerie und Sekretär der Gesellschaft der Kunstfreunde in Wien, währen der ich an die 150 Ausstellungen durchführte sowie die eigenen etwa hundert Fotoausstellungen im In- und Ausland waren im Grunde auch stets „Begegnungsorte“ in dem Sinn, wie ich das meine. Immer war es der Kontakt mit den Menschen, der bei mir und in meinem Leben im Mittelpunkt stand, wobei es nicht so sehr um die Literatur ging, sondern um das Miteinander auf allen Gebieten, vor allem aber auf dem der menschlichen Begegnung.

Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte habe ich auf diese Weise viele Kollegen und Kolleginnen aus verschiedenen Kunstbereichen kennengelernt. Diese Kontakte, Begegnungen und Beziehungen haben mir einerseits einen guten Überblick weit über regionale Begrenzungen hinaus gebracht, aber mich oft auch durch Freunde, denen ich heute noch herzlich dafür danken will, in Städte und Länder gebracht, in die ich sonst wahrscheinlich nicht gekommen wäre, jedenfalls nicht auf solche Weise. Ich denke da nur an meine Aufenthalte in Moskau, Dublin, Dubrovnik, in Oulu und Helsinki, in Paris und London, in Sofia und Prag, in Ljubljana und Zagreb, in Struga, Ochrid und Skopje. Und immer wieder in meinem geliebten Land Bosnien-Herzegowina, in dem ich schon 1961 zum ersten Mal war. Nach all diesen Aufenthalten kam nach den Jugoslawienkriegen dann noch Polen hinzu. Und ein Abstecher nach Jerusalem und Tel Aviv sowie in die Türkei, nach Istanbul, Izmir, Mersin. Immer wieder gab es auch Zusammentreffen in Wien. Wichtig waren für mich aber auch noch meine einmonatigen Stipendienaufenthalte in „meinem“ geliebten Rom.

Wenn ich heute (mit mehr als siebzig Jahren) auf all dies zurückschaue, so begreife ich schließlich doch, was und daß dies mein Leben war und ist. Und ich bin allen dankbar, die mir das ermöglicht haben. Vor allem aber bin ich all jenen in Dankbarkeit verbunden, die mir in Offenheit begegnet sind und mich in herzlicher Freundschaft bei sich aufgenommen und mir das geschenkt haben, was für mich das Wichtigste im Leben ist: die menschliche Begegnung.

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.