Wenn ich spät nach Mitternacht in der Potsdamerstraße nach Hause ging, eilte ich mich meistens nicht sehr, denn die Nachtluft kam mir erfrischend entgegen. Sie war wie ein Wanderer, der aus Grenzwäldern über Flüsse und Seen herkam und über Berlin hinschritt. Und während ich von einer Laterne zur andern ging, war die Nachtluft schon über die Provinz Brandenburg fortgezogen an die Elbe, an den Rhein, und im Vorübergehen hatte sie mich leicht verhext und hatte mir Meilengedanken gegeben, so daß ich darnach nicht mehr zwischen Laternen weiter ging, sondern fort über mich selbst.
Auf einer Plakatsäule sah ich in einer Nacht einen großen Tigerkopf. Darunter stand „Indien in Berlin“. Der gefleckte Tigerkopf sah aus gelbem Bambusröhricht heraus und war ein praller Katzenkopf; über ihm lag ein bleichblau gemalter Himmel.
Eine Weile schien mir dann, als ginge ich durch indische Dschungeln, indessen ich doch nur auf dem Streifen breiter Pflasterplatten wandelte, die sich als eine lange Zeile in der Mitte des Bürgersteiges hinzogen.
Die vielen offenen und dunkeln Schaufensterscheiben glitzerten neben mir wie mondbeschienene Gewässer auf, ähnlich den heimlichen Tränkestätten von Raubtieren, die unhörbar durch die Dschungeln schleichen. Eine Autohuppe brüllte manchmal in einer Nebengasse. Dieser Laut wurde mir fast zu Löwengeheul. Und schleifte der Gummireifen eines vorbeisausenden Autos mit surrendem Laut über den glatten Asphalt des Fahrdammes, dann waren da in der Vorstellung galoppierende Dickhäuter, pfauchende Nashornherden und aufgescheuchte Scharen von Nachtvögeln, die vorbeifegten.
Ich blieb an einem Schaufenster stehen. Das kannte ich gut. Dort stand ich immer eine Weile in jeder Nacht und nahm mir vor dem Schlafengehen Zeit, die lebende gefiederte Ware einer Vogelhandlung zu bedauern.
Da waren chinesische Nachtigallen in Drahtkäfigen mit roten Schnäbeln und grüngelber Brust. Und smaragdgrüne Sittiche aus Australien und afrikanische Finken, silbergrau wie deutsche Schwalben und mit korallenroten Schnäbeln. In einem Käfig allein saß eine deutsche schwarze Amsel, und ein anderer Käfig war voll mit zitronengelben Kanarienvögeln. Da waren auch Käfige mit Turteltauben, deren Federleib war silbrig und weiß wie Holzasche.
Alle diese Vögel saßen in ihren Drahtzellen wie bestrafte Verbrecher. Die meisten von ihnen waren zwar im Käfig geboren, aber ich mußte nachgrübeln, was wohl ihre Vorfahren in China, Afrika, Australien begangen haben mochten, daß ihre Kindeskinder hier, verbannt und gefangen, im Schaufenster der Potsdamerstraße ihre Lebenstage verbringen mußten.
Das elektrische Licht der nächsten Straßenlaterne sah schrecklich grell durch die glänzenden Drahtstäbe der Gitter auf die dünnen geschlossenen Augenhäute der kleinen unruhigen Schläfer. Das scharfe unnatürliche Licht mußte noch den Schlaf der Gefangenen schmerzhaft machen. Und die brüllenden Autohuppen, deren Fahrzeuge mit Gedröhn während der ganzen Nacht die große Stadt durchrasten, mußten die feinen musikalischen Ohren der Singvögel noch im Schlaf quälen.
Vögel, die gewöhnt sind, in lauschigen Buschverstecken in der Urstille ewiger Wälder zu nisten, zu picken, zu flattern und die grünen Dämmerungen der Blättergehäuse alter Bäume zu durchfliegen, hatten hier einen kaum fußbreiten Raum zwischen den blitzenden Metallgittern. Aber sie schienen sich sanft und gütig zu bescheiden und schienen mir weiser zu sein als ihre gefangenen Wärter.
Einmal hatte ich am Tage hier an dem Schaufenster um die Mittagstunde mit den Händen in den Taschen einen armen, ganz dürftig gekleideten Arbeiter stehen sehen. Der schien sich in das Leid der Vögel hineingedacht zu haben. Er sah andächtig jedes Tierchen an und war verwundert, wie mir schien, daß diese schönen geflügelten Geschöpfe kein besseres Schicksal hatten als das des Gefängnisses. Nicht einmal ihren Gesang konnten sie genießen. Denn es singen die verschiedenen Vogelarten zu gleicher Zeit lärmend durcheinander. Es sang der Weltteil Afrika, der Weltteil Australien, der Weltteil Asien. Die Spitzen der Flugfedern an Schwanz und Flügeln haben sich die Vögel an den Gittern abgestoßen. Am Tag fallen ihnen die Augen vor Müdigkeit zu, und nachts reißen sie sie auf vor Schrecken und gequält von dem stechenden, kaltweißen Bogenlicht der Straße und von den wütend jagenden Automobilen.
Um zwei Uhr, drei Uhr, vier Uhr nachts rücken die armen Vögel immer noch unruhig hin und her, zu müde, um wach sein zu können, und zu wach gehalten, um einschlafen zu können.
Ich kam mir unbehaglich wie ein großer wandelnder Turm vor, solange ich vor den winzigen Vögelchen stand, und so ging ich weiter, an den Glaswänden der Schaufenster entlang. Es ist da auch ein Blumenladen, den eine Dame besitzt, die am Tage immer mit schönen frauenhaften Bewegungen frische Blumen dort ausstellt, geschmackvoll in Vasen und Körben geordnet, und die ein Band oder ein Buch in die Nähe der Blumen legt und an den grauen Wandschirm, der im Hintergrund des Schaufensters steht, ein Bild hinhängt, das einer beliebten Tänzerin, oder einen alten Kupferstich, darstellend eine längst verstorbene Prinzessin.
Hier erhole ich mich etwas von meinem Leid. Vielleicht leiden abgeschnittene Blumen ebensoviel wie eingesperrte Vögel. Aber sie sind nicht Fleisch und Blut, und deshalb leide ich bei ihnen ebenso wenig, als ich mit meinen Haaren leide, wenn ich sie schneiden lasse.
Wie gerne möchte ich einer Einbrecherbande angehören, dachte ich neulich. Die müßte aber nicht einbrechen des Diebstahls wegen, sondern der Ordnung wegen. Dann würde ich nachts die Tür der Vogelhandlung aufbrechen und mit meinen Spießgesellen alle Käfige herausholen. Fliegen würde ich die Vögel nicht lassen. Sie würden sonst verhungern und erfrieren. Ich würde aber die Tür auch des Blumenladens aufbrechen, und dort in der lauwarmen Luft wollte ich alle Futternäpfe der Vögel zwischen die Schalen der Anemonenvasen stellen, zwischen die Körbe voll Hyazinthen, zwischen die dicken Efeukränze und um den hohen Krug, darin die Weidenruten voll Silberkätzchen stecken. Und über den Töpfen der Mimosen bei den gespenstig geformten Figuren der Orchideenblüten und bei den geisterhaft weißen Bechern der Callablüten, dort würde ich die fliegenden Bewohner von Afrika, Australien und Asien es sich wohl sein lassen.
Einige Häuser weiter von dieser Blumenhandlung ist, ehe ich zu meiner Haustüre komme, noch solch ein exotischer Sklavenmarkt. Dort sitzen im Schaufenster neben kleinen Affen und Papageien in winzigen Käfigen weiße Mäuse und in Gläsern Laubfrösche.
Kein Schaufenster von ganz Berlin ist am Tage so von Leuten aller Stände besucht wie dieses, an dem ich immer vorüber muß, wenn ich aus dem Hause trete. Dort habe ich Bekanntschaft gemacht mit einem Mammosettäffchen. Ich habe keine Ahnung, warum das Tier Mammosett heißt. Aber der Name steht auf einem Zettel am Käfig. Und ich denke immer, der Name müßte von Mimose kommen, da das Tier von mimosenhafter Empfindsamkeit ist. „Wird sehr zahm“ steht auch daneben. Das glaube ich gern. Gewöhnlich, wenn die Tiere sehr zahm geworden sind, sterben sie weg, wie jenes Pferd, von dem der Bauer behauptete, daß es von der Luft allein leben könnte, und das starb, als es sich eben ans Hungern gewöhnt hatte.
Mammosett erschien um die Weihnachtszeit im Schaufenster. Trotzdem es in diesen Tagen Lawinen schneite, blieben alle Leute stehen, um Mammosett zu betrachten. Das winzige, nur handgroße Äffchen ist „das kleinste Äffchen der Welt“, – das steht auch auf dem Zettel am Käfig. Aber ich finde, trotzdem hätte man Mammosett nicht in einen Kanarienvogelkäfig sperren dürfen. Denn auch seine Winzigkeit verlangt Bewegung und Freiheit. In den ersten Tagen sprang das Tierchen wie irrsinnig in seinem Käfig herum, ähnlich den weißen Tanzmäusen in den Nebenkäfigen, die Tag und Nacht um eine Spule rennen. Die kamen mir immer vor wie kleine tanzende Derwische, die heftig rund herum rennen, damit sie eines Tages tot umfallen und so aus der Gefangenschaft des Lebens befreit sind.
Ich erkundigte mich in der Tierhandlung, was Mammosett kostet. Aber ich hörte am selben Tag von einer Dame, daß diese Äffchen, wenn sie zahm werden, alles zerreißen, was ihnen unter die Finger kommt. Seit ich das weiß, möchte ich auch hier beim Mammosettäffchen Einbrecher werden und Mammosett befreien. Und ich hab mir schon eine Geschichte ausgedacht, wie dieses Mammosettäffchen, frei gelassen, alle seine Mitgefangenen, die Papageien, die Mäuse und die Laubfrösche, und zuletzt den Tierhändler selbst in kleine Stückchen zerreißen würde. Vom Tierhändler müßte das Äffchen jeden Tag nur ein Stückchen abreißen, einmal ein Ohrläppchen, einmal einen Nasenflügel, einmal einen Haarschopf, bis der Tierhändler daläge wie ein zerstückelter Brief im Papierkorb.
Jetzt, nach zwei Monaten, ist das Äffchen in seinem Käfig ruhiger geworden, „zahm“ würde der Tierhändler sagen. Ich sage „todesmatt“. Es kauert in einem Häufchen Holzwolle und knabbert manchmal an einem Kuchenstück und zittert den ganzen Tag.
Auf der Stange des Käfigs, darauf eigentlich ein Kanarienvogel sitzen sollte, kauert mühsam das Äffchen. Die Stange ist zu schmal, und es fällt oft herunter. Wenn es sich in dem winzigen Gitterraum bewegen wollte, müßte es sich rund um sich selbst bewegen wie die weißen Mäuse und müßte irrsinnig werden. Weil es aber ein sanftes Tierchen ist, so will es keines irrsinnigen, sondern eines sanften Todes sterben. Es wird also scheinbar zahm, das heißt, es sitzt auf einem Fleck und stirbt langsam ab.
Wenn ich die nächtlichen Straßen hinauf und hinunter sehe, so scheinen mir die menschlichen Häuser auch nichts anderes als steinerne Käfige zum Zahmwerden und zum Absterben.
An einer Straßenecke stand während zweier Monate in jeder Nacht um zwei, drei, vier Uhr eine und dieselbe Frau. Sie war gekleidet wie eine Hausmeisterin in ein einfaches Hauskleid und hatte nur ein wollenes Tuch über dem Kopf und über der wollenen Manteljacke. Armselig, aber atemlos lauernd, stand sie immer am selben Fleck. Sie wartete nicht auf jemanden, aber sie horchte nach jemandem hin. Sie horchte nach der Richtung einer Haustüre hin. Sie war eine vertrocknete, abgearbeitete Frau, die sich durch Spionage einen Nachtverdienst machte, das erfuhr ich eines Abends. Im Haus aber, das sie behorchte, sang oft in der Nacht im Oberstock eine Frauenstimme.
Wenn ich mit Freunden dort vorbei ging, oder wenn ich allein aus Theatern und Gesellschaften kam, immer stand diese Aufpasserin an dem Gitter des Vorgartens, angewurzelt wie ein Baum. Immer horchte sie nach jener Haustüre hin, aber nicht immer sang die Frauenstimme in der einzelnen Villa.
Eines Abends, als ich eben wieder von meiner Vogelhandlung und von dort zur Blumenhandlung und von dort zum Mammosettäffchen gewandert war, kam eine vornehme Dame aus dem Schatten eines Haustores. Sie schien mir wie von der Nachtluft aus irgend einer fremden Stadt hergeweht auf die Potsdamer Straße. Vielleicht hatte sie mich schon längst beobachtet und hatte mich bei den gefangenen Vögeln, dann bei den gefangenen Blumen und jetzt bei dem gefangenen Äffchen stehen sehen.
„O, mein Herr,“ sagte sie, „darf ich Sie um einen Dienst ersuchen?“ Und ihre Stimme war wehklagend wie die Stimme einer Gefangenen. „Würden Sie mir den Gefallen tun, jene Frau dort um die Ecke anzureden und zu fragen, warum sie immer Nacht für Nacht dort steht, und wer sie dort hingestellt hat zum Aufpassen?“
„Gern,“ sagte ich. „Ich bin selbst neugierig, es zu wissen.“
„Ich werde Sie hier erwarten,“ sagte die erregte Dame. Ihre Brust hob und senkte sich, und ihr zitternder Atem kam wie ein feiner Nebel aus ihrem Schleier und verflüchtigte sich in der eisigen Nachtluft.
Dieser feine graue Hauch auf den Lippen der sichtbar Geängstigten, trieb mich zur Eile an.
Ich ging und zwang meine Schritte, daß sie möglichst gleichgültig schienen. Ich bog um die Straßenecke und ging dort zuerst an dem horchenden kleinen ältlichen Weib vorbei. Ich sah sie gar nicht an. Dann wendete ich wieder einige Schritte um und ging langsam denselben Weg zurück. Dabei betrachtete ich die Aufpasserin genau, denn sie sah mir unter der Laterne, wo sie stand, ins Gesicht.
Ihr dumpfrotes dickes Kopftuch war ein wenig vom Schädel zurückgerutscht, und sie sah mit dem grauen platten Haar elend und armselig aus. Aber ihre kleine Stirn hatte etwas hartnäckig Ausdauerndes wie ein Stein, den man vergeblich auf Steine stößt und der nicht zerspringt. Mager und blutleer, ausgekältet von ewigen Nachtfrösten, stand sie dort. Aber nicht zusammengekauert vom Elend, sondern verzweifelt, halsstarrig wie ein Nagel, der spitz aus einer Kiste heraussteht, und an dem sich alle Vorübergehenden die Kleider zerreißen. Der Nagel aber weicht nicht, er sticht und reißt jeden in die Haut, der unvorsichtig in seine Nähe kommt. So stand diese Gestalt seit Monaten von Mitternacht bis zum Morgengrauen und wich nicht und änderte ihren Standplatz nie.
Sie hatte keinen wirklichen Blick in ihren Augen. Trotzdem sie mich anstarrte, schien sie mich nicht zu sehen. Sie horchte nur, immer weilte ihre Aufmerksamkeit nur in ihren Ohren. Man merkte es ihr aber an, daß sie geschäftsmäßig, auf Bestellung und für Bezahlung dastand, denn sie zeigte in Haltung und Miene ärmlich weiblichen Pflichteifer.
„Sagen Sie mir,“ fragte ich laut und dabei lächelnd und blieb eine Sekunde im Gehen stehen, „warum um Gottes willen warten Sie Nacht um Nacht bis zum Morgen hier? Ich habe Sie nun schon oft beobachtet. – Dürfen Sie es nicht sagen?“ fuhr ich fort, als sie schwieg. Sie hatte mich einen Augenblick von der Seite angesehen, beinahe ebenfalls belustigt wie ich, dann aber starrte sie mit abgewendetem Gesicht nach einer andern Himmelsrichtung, wie ein Hund, den man anredet, und der fortsieht und sich besinnt, ob er böse werden soll oder nicht.
„Na, wenn Sie es nicht sagen wollen,“ sagte ich gedehnt und wartete, um ihr Zeit zu lassen. Sie aber sah immer starr in die Seitenstraße und rührte sich nicht.
„Wenn Sie nichts sagen dürfen –,“ lachte ich und ging langsam und nahm mir vor, wenn nicht heute, dann doch morgen von neuem zu fragen. Aber diese Frau würde sicher nie antworten, sagte ich mir zugleich. Sie mußte ihr Geld verdienen und verdiente es nur, wenn sie schwieg und horchte. Mir schien, man hätte ihr ein Stemmeisen zwischen die Lippen stoßen können, sie hätte keinen Laut von sich gegeben und den Mund nicht geöffnet. Dieses war mein Eindruck. Welch schrecklicher Gefangenwärter war sie! Und wessen Gefängnis mochte sie bewachen? –
Ich bog in die Seitenstraße und ging bis zur Potsdamer Straße zurück. Dort fand ich die Dame im Schatten eines tiefen Haustores, auch stand ein Automobil am Straßenrand, dessen Tür offen war.
Ich schüttelte von weitem den Kopf, und die Fremde nickte und kam mir entgegen. „Ich wußte, daß diese Kreatur nichts verraten würde,“ klagte die Dame enttäuscht. „Ich habe sie neulich bereits selbst gefragt und habe sie befragen lassen, aber sie antwortet niemandem. Sie bewacht nämlich die Haustüre einer unglücklichen Freundin von mir. Und ich möchte wissen, ob der ungetreue Mann meiner Freundin oder andere Leute diese reinste aller Frauen beobachten lassen, um sie in Verdacht zu bringen.“ Sie dankte mir dann und entschuldigte sich und ging zum Auto, das ein Privatwagen war. Ich hatte das Fahrzeug vorher in meiner Überraschung, und da ich in Gedanken am Schaufenster bei dem Mammosettäffchen gestanden hatte, gar nicht bemerkt. Der Wagenschlag wurde vom Kutscher zugeworfen, und die Dame flog wie der Nachtwind aus meiner Sehweite fort. Ich stand und wunderte mich eigentlich gar nicht. Denn daß ein Geheimnis, eine Grausamkeit, eine Ungerechtigkeit mit der geheimnisvollen nachtwachenden Kreatur drüben um die Straßenecke in Verbindung stand, das hatte ich mir schon lange gedacht.
An einem der nächsten Abende begleitete ich eine mir befreundete Dame vom Künstlertheater nach Hause, und da es eine sternhelle Nacht war, wollte meine Begleiterin nicht fahren, sondern sie wollte schlendern und die Nachtluft atmen. Wir kamen in der Nettelbeckstraße an dem Schaufenster eines Juweliers vorüber, das die ganze Nacht über beleuchtet dasteht. In diesem Laden gibt es nur alte Schmucksachen, alte Familienschmuckstücke, Familiensilber, altmodische Fingerringe. Da sind viele ergraute Perlen, müde gewordene Edelsteine, graue matte Rosensteine in grauen, trüb gewordenen Silberfassungen.
Wir standen und ließen unsere Augen wühlen und freuten uns, uns gegenseitig zu überraschen mit unserer Vorliebe für die verschiedenen Steine, indem wir in allen Verstecken des Schaufensters nach besonders edlen Fassungen und besonders schönen Schmuckstücken suchten.
Bei diesem lässigen Spiel kam mir der Gedanke, daß die alten Schmuckwaren hinter der Glasscheibe mehr Sorge als Freude in sich trügen, und daß das Schaufenster aussah wie voll Gefangener, die da, herausgerissen aus ihren Lebenswegen, warten mußten, bis sie aus dem Fenster befreit würden, bis sie wieder an warmen Menschenhänden, an zarten Frauennacken, in Frauenhaaren und an Frauenwangen leuchten, aufleben und frei sein durften. Denn das Leben der Steine beginnt erst, wenn sie in Schönheit getragen werden, bei festlichem Licht und festlichem Blut.
Und ich mußte bei den alten gefangenen Edelsteinen an die Schaufenster voll gefangener Vögel, Blumen und Affen denken.
Ich sagte dieses zu meiner Begleiterin, und im Anschluß an die Erzählung von meinen nächtlichen Schaufenstern berichtete ich ihr auch mein Erlebnis mit der Dame und der Aufpasserin, die jenes Haus allnächtlich bewachte.
Meine Freundin wollte sofort, daß wir die Aufpasserin besuchen sollten. Wir kamen dann vor jenes Haus, aber wir vermieden die Häuserseite und gingen unter den winterkahlen Bäumen der anderen Straßenseite am Rande eines schwarzen Kanalwassers entlang.
Wir sahen die Frau wieder horchend am Eisengitter des Vorgartens stehen, oben aber in der Villa, deren Tür die Aufpasserin ins Auge gefaßt hatte, waren zwei erleuchtete Fenster.
Meine Begleiterin, die ein sehr feines Gehör besitzt, sagte plötzlich zu mir: „Hören Sie doch, im Hause singt eine Frauenstimme!“
Wir standen hinter einem breiten Baumstamm still, und in den Pausen, die zwischen dem Lärm vorübersausender Autos nur sekundenweise eintraten, hörten wir einen wundervollen Gesang. Dazu die feine Begleitung eines Instrumentes.
Ich hätte die Autos aufhalten mögen, die sich immer wieder an dem Kanal und der Baumreihe entlangstürzten und die mich nur kleine Stücke des großen Liedes auffangen ließen.
„Eine Sängerin,“ sagte meine Begleiterin mit begeisterten Augen. „Und zwar muß es eine große Sängerin sein, denn ihre Stimme ist herrlich.“ „Sie singt,“ sagte ich, „sie singt so erschütternd und ergreifend. Es ist, als schluchzt sie die Töne, als wäre sie eine weinende Quelle in einem heiligen Hain, wo die Bäume dunkel und feierlich nicht rauschen dürfen, solange die Quellenstimme singt.“
Wir standen lange still. Dann verdunkelte sich oben das eine Fenster, und für einen Augenblick erschien der dunkle Umriß einer schöngebauten Frauengestalt hinter dem Vorhang, die in Haltung und Wuchs edel war wie ihr Lied. Es war eine hoheitsvolle mütterliche Erscheinung. Der Kopf schien in den bestirnten Nachthimmel zu schauen, und mir war, als trüge sie noch die Rhythmen des Liedes wie große Schwingen an ihrer aufgerichteten Gestalt. Das Aufpasserweib unten am Vorgarten stierte hoch und ging langsam, wie beunruhigt, einige Schritte von der Haustüre fort. Dann wurde nach einer Weile das Licht oben ausgelöscht. Das Haus lag wie ein toter Käfig bei den andern Häuserkäfigen. Und die Aufpasserin stand wieder an ihrem Platz wie eine Schildwache. Wir gingen dann weiter. Meine Begleiterin war nachdenklich geworden. Sie schien im Geist in jenes Haus eingedrungen zu sein, um die bewachte und singende Frau dort auszuforschen. Aber sie schien dabei ebenso wenig eine Antwort zu bekommen wie ich damals, als ich die Aufpasserin in jener Nacht gefragt hatte.
„Sie ist unglücklich und kann dabei noch singen, wunderschön singen, verstehen Sie das?“ fragte sie mich dann.
„Das tun die Nachtigallen auch, die unglücklich sind, wenn sie eingesperrt sind, sie singen um so schöner, je dunkler es um sie wird,“ mußte ich erwidern. „Aber warum ist sie bewacht, wenn sie engelrein ist, wie ihre Freundin sagte? Verstehen Sie das?“ fragte sie mich hartnäckig weiter.
„Der Schuldige belauert immer den Unschuldigen. Ihr Mann soll ihr untreu sein, hat jene Dame neulich nachts gesagt,“ suchte ich zu erklären.
„Aber warum trennen die beiden sich nicht, warum? Können Sie mir das erklären?“
„Das kann ich nicht erklären,“ sagte ich darauf.
„Aber Sie müssen es mir erklären,“ bat meine Begleiterin ängstlich. „Ich fühle, ich kann in dieser Nacht nicht schlafen und werde immer an jene singende Frau denken müssen, die ihren Gram, ihren Herzkummer und ihre Einsamkeit sich fortsingen muß.“
Und welche Stimme, dachte ich bei mir: so singen nur die Erzengel vor Gottes Thron, so mächtig, wenn sie aufweinen über die Schmerzen der Welt.
„Erklären Sie mir das Geheimnis! Erklären Sie mir, wie kann man Ungerechtigkeit erdulden, ohne sich zu wehren?“
„Wie wehren sich die gefangenen Singvögel, wie wehren sich wehrlose Frauen? Sie singen aus Notwehr, wenn sie Stimme und angeborene Musik in sich tragen; sie singen sich ihr Weh vom Leibe. Sie singen sich vom Gift der Qualen frei. Anders wehren sich die, die innerlich singen können, nie.“
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Die von Farben und Tönen bestimmte ungebundene und rhythmische Lyrik machte Dauthendey zu einem der bedeutendsten Vertreter des Impressionismus in Deutschland. Seine Werke sind bestimmt von der Liebe zur Natur und deren Ästhetik. Mit virtuoser Sprachbegabung setzte er seine Sensibilität für sinnenhafte Eindrücke in impressionistische Wortkunstwerke um. Bereits seine erste Gedichtsammlung von 1893 mit dem Titel „Ultra-Violett“ lässt die Ansätze einer impressionistischen Bildkraft erkennen, die dichterisch gestaltete Wahrnehmung von Farben, Düften, Tönen und Stimmungen offenbart. In seiner späteren Natur- und Liebenslyrik steigerte sich dies bis zur Verherrlichung des Sinnenhaften und Erotischen und traf sich mit seiner Philosophie, die das Leben und die Welt als Fest, als panpsychische „Weltfestlichkeit“ begriff. Rilke bezeichnete ihn als einen „unserer sinnlichsten Dichter, in einem fast östlichen Begriffe“.