Das Dasein ist im Sinne der Epik ein Meer. Es gibt nichts Epischeres als das Meer. Man kann sich natürlich zum Meer sehr verschieden verhalten. Zum Beispiel an den Strand legen, der Brandung zuhören und die Muscheln, die sie anspült, sammeln. Das tut der Epiker. Man kann das Meer auch befahren. Zu vielen Zwecken und zwecklos. Man kann eine Meerfahrt machen und dann dort draußen, ringsum kein Landstrich, Meer und Himmel, kreuzen. Das tut der Romancier. Er ist der wirklich Einsame, Stumme. Der epische Mensch ruht nur aus. Im Epos ruht das Volk nach dem Tagwerk; lauscht, träumt und sammelt. Der Romancier hat sich abgeschieden vom Volk und von dem, was es treibt. Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch aussprechen kann, selbst unberaten ist und keinem Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Daseins das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Was den Roman vom eigentlichen Epos trennt, fühlt jeder, der an die homerischen Werke oder an das dantesche denkt. Das mündlich Tradierbare, das Gut der Epik, ist von anderer Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht. Es hebt den Roman gegen alle übrigen Formen der Prosa – Märchen, Sage, Sprichwort, Schwank – ab, daß er aus mündlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht. Vor allem aber gegen das Erzählen, das in der Prosa das epische Wesen am reinsten darstellt. Ja, nichts trägt so sehr zum gefährlichen Verstummen des inneren Menschen bei, nichts tötet den Geist des Erzählens so gründlich ab wie die unverschämte Ausdehnung, die in unser aller Existenz das Romanlesen annimmt. Es ist daher die Stimme des geborenen Erzählers, die sich gegen den Romancier so vernehmen läßt: »Ich will auch nicht davon sprechen, daß ich die Befreiung des epischen Werks vom Buch für … nützlich halte, nützlich insbesondere in Hinsicht auf die Sprache. Das Buch ist der Tod der wirklichen Sprachen. Dem Epiker, der nur schreibt, entgehen die wichtigsten formbildenden Kräfte der Sprache.« So hätte Flaubert nicht gesprochen. Diese These ist Döblins. Er hat darüber im ersten Jahrbuche der Sektion für Dichtung an der Preußischen Akademie der Künste eine sehr umfassende Rechenschaft abgelegt, und sein »Bau des epischen Werks« ist ein meisterhafter und dokumentarischer Beitrag zu jener Krise des Romans, die mit der Restitution des Epischen einsetzt, der wir allerorten und bis ins Drama begegnen. Wer diesen Döblinschen Vortrag durchdenkt, braucht sich gar nicht mehr bei den äußeren Anzeichen dieser Krisis, dieses Erstarkens des Radikal-Epischen aufzuhalten. Die Sturmflut biographischer, historischer Romane verliert für ihn alles Erstaunliche. Der Theoretiker Döblin, weit entfernt, mit dieser Krisis sich abzufinden, eilt ihr voraus und macht ihre Sache zu seiner eigenen. Sein letztes Buch zeigt, daß Theorie und Praxis seines Schaffens sich decken.
Es ist aber nichts aufschlußreicher als diese Döblinsche Haltung mit der gleich souveränen, gleich beherzt in praxi durchgeführten, gleich exakten und doch in allem gegensätzlichen zu vergleichen, die André Gide in seinem »Tagebuch der Falschmünzer« kürzlich an den Tag gelegt hat. Im Widerspiel dieser kritischen Intelligenzen kommt die heutige Situation der Epik am schärfsten zum Ausdruck. Gide entwickelt in diesem autobiographischen Kommentar seines letzten Romans die Lehre vom »roman pur«. Dort hat er’s mit erdenklichster Subtilität darauf angelegt, alle schlichte, geradlinig aneinanderreihende Erzählung (alle epischen Größen ersten Grades) zugunsten sinnreicher, rein romanhafter (und das heißt hier zugleich auch romantischer) Verfahrungsweisen beiseite zu setzen. Die Stellung der Personen zu dem, was vorgeht, die Stellung des Dichters zu ihnen und seiner Technik, all das soll Bestandteil seines Romans selbst werden. Kurz, dieser »roman pur« ist eigentlich reines Innen, kennt kein Außen, und somit äußerster Gegenpol zur reinen epischen Haltung, die das Erzählen ist. Gides Ideal des Romans ist – so läßt er sich im strengen Gegensatz zu Döblin darstellen – der reine Schreibroman. Er hält die Flaubertschen Positionen vielleicht zum letzten Male aufrecht. Und es kann nicht Wunder nehmen, in Döblins Vortrag auch auf diese Leistung die denkbar schärfste Entgegnung zu finden. »Sie werden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ich den Autoren rate, in der epischen Arbeit entschlossen lyrisch, dramatisch, ja reflexiv zu sein. Aber ich beharre dabei.«
Wie unerschrocken er’s tut, dafür ist die Ratlosigkeit mancher Leser vor diesem neuen Buche ein Zeichen. Nun ist es wahr, daß selten auf solche Weise erzählt wurde, so hohe Wellen von Ereignis und Reflex haben selten die Gemütlichkeit des Lesers in Frage gestellt, so hat die Gischt der wirklichen gesprochenen Sprache ihn noch nie bis auf die Knochen durchnäßt. Aber es wäre nicht nötig gewesen, darum mit Kunstausdrücken zu operieren, vom »dialogue intcrieur« zu reden oder auf Joyce zu verweisen. In Wirklichkeit handelt es sich um etwas ganz anderes. Stilprinzip dieses Buches ist die Montage. Kleinbürgerliche Drucksachen, Skandalgeschichten, Unglücksfälle, Sensationen von 28, Volkslieder, Inserate schneien in diesen Text. Die Montage sprengt den »Roman«, sprengt ihn im Aufbau wie auch stilistisch, und eröffnet neue, sehr epische Möglichkeiten. Im Formalen vor allem. Das Material der Montage ist ja durchaus kein beliebiges. Echte Montage beruht auf dem Dokument. Der Dadaismus hat sich in seinem fanatischen Kampf gegen das Kunstwerk durch sie das tägliche Leben zum Bundesgenossen gemacht. Er hat zuerst, wenn auch unsicher, die Alleinherrschaft des Authentischen proklamiert. Der Film in seinen besten Augenblicken machte Miene, uns an sie zu gewöhnen. Hier ist sie zum ersten Male für die Epik nutzbar geworden. Die Bibelverse, Statistiken, Schlagertexte sind es, kraft deren Döblin dem epischen Vorgang Autorität verleiht. Sie entsprechen den formelhaften Versen der alten Epik.
So dicht ist diese Montierung, daß der Autor schwer darunter zu Wort kommt. Die moritatenähnlichen Kapitelansagen hat er sich vorbehalten; im übrigen ist’s ihm nicht eilig, sich vernehmen zu lassen. (Aber er wird sein Wort noch anbringen.) Erstaunlich, wie lange er seinen Figuren folgt, ehe er’s riskiert, sie zur Rede zu stellen. Sacht, wie der Epiker es soll, geht er an die Dinge heran. Was geschieht, auch das Plötzlichste, scheint von langer Hand vorbereitet. In dieser Haltung aber inspiriert ihn der berlinische Sprachgeist selbst. Sacht ist das Zeitmaß seiner Bewegung. Denn der Berliner spricht als Kenner und mit Liebe zu dem, wie er’s sagt. Er kostet es aus. Wenn er schimpft, spottet und droht, will er dazu sich Zeit nehmen, genau wie zum Frühstück. Glaßbrenner pointierte das Berlinische dramatisch. Hier ist es nun in seiner epischen Tiefe ermessen; Franz Biberkopfs Lebensschiffchen hat schwer geladen und braucht doch nirgends auf Grund zu stoßen. Das Buch ist ein Monument des Berlinischen, weil der Erzähler keinen Wert darauf legte, heimatkünstlerisch, werbend zur Stadt zu stehen. Er spricht aus ihr. Berlin ist sein Megaphon. Sein Dialekt ist eine von den Kräften, die sich gegen die Verschlossenheit des alten Romans kehren. Denn verschlossen ist dieses Buch nicht. Es hat seine Moral, die sogar den Berliner was angeht. (Tiecks »Abraham Tonelli« hat die Berliner Schnauze schon so entfesselt, aber noch niemand hatte sich sie zu kurieren getraut.)
Es ist lohnend, der Kur an Franz Biberkopf nachzugehen. Was geschieht ihm? – Aber zunächst: Warum heißt es: »Berlin Alexanderplatz«, und »Die Geschichte vom Franz Biberkopf« nur darunter? Was ist der Alexanderplatz in Berlin? Das ist die Stelle, wo seit zwei Jahren die gewaltsamsten Veränderungen vorgehen, Bagger und Rammen ununterbrochen in Tätigkeit sind, der Boden von ihren Stößen, von den Kolonnen der Autobusse und U-Bahnen zittert, tiefer als sonstwo die Eingeweide der Großstadt, die Hinterhöfe um den Georgenkirchplatz sich aufgetan, und stiller als anderswo in den unberührten Labyrinthen um die Marsiliusstraße (wo die Sekretäre der Fremdenpolizei in eine Mietskaserne gepfercht sind), um die Kaiserstraße (in der die Huren abends ihren alten Trott machen), sich Gegenden aus den neunziger Jahren gehalten haben. Kein Industrieviertel; Handel vor allem; Kleinbürgertum. Und dann sein soziologisches Negativ: die Ganoven, die von den Arbeitslosen ihren Zuzug bekommen. Einer von denen ist Biberkopf. Als Arbeitsloser verläßt er das Zuchthaus Tegel, bleibt eine Weile anständig, eröffnet einen Handel an ein paar Straßenecken, fällt ab und wird Mitglied der Pumsbande. Eintausend Meter, länger ist der Radius nicht, der den Bannkreis dieser Existenz um den Platz schlägt. Der Alexanderplatz regiert sein Dasein. Ein grausamer Regent, wenn man will. Ein unumschränkter. Denn der Leser vergißt alles neben und außer ihm, lernt seine Existenz in diesem Raum fühlen und wie wenig man von ihm wußte. Es ist ja alles anders, als der Leser, der dieses Werk dem Mahagonispind entnimmt, sich’s vorstellt. Es schmeckt so gar nicht nach »sozialem Roman«. Keiner übernachtet hier in der Palme. Die haben immer ein Zimmer. Man trifft sie auch nie auf der Zimmersuche. Selbst der Erste scheint um den Alexanderplatz herum seine Schrecken verloren zu haben. Elend sind diese Leute schon. Immerhin sind sie elend in ihren Zimmern. Was ist das? Wie kommt das eigentlich?
Zweierlei ist das. Etwas Großes und etwas Beschränkendes. Etwas Großes: Denn das Elend ist in der Tat nicht, wie der kleine Moritz sich’s vorstellt. Das wirkliche wenigstens, im Gegensatz zum gefürchteten. Nicht die Menschen allein, sondern auch Not und Jammer müssen sich nach der Decke strecken, müssen sehen, wie sie sich durchschlagen. Auch ihre Agenten, Liebe und Alkohol, werden manchmal aufsässig. Und es gibt nichts so Schlimmes, daß sich nicht eine Weile damit leben ließe. In diesem Buch kehrt das Elend seine joviale Seite heraus. Es läßt sich mit den Menschen am gleichen Tisch nieder, aber das Gespräch bricht darum nicht ab, man setzt sich zurecht und läßt es sich weiter schmecken. Das ist eine Wahrheit, von der der neue Hintertreppennaturalismus nichts wissen will. Darum mußte ein großer Erzähler kommen, um ihr wieder einmal zu ihrem Recht zu verhelfen. Von Lenin sagt man, er habe nur eins fanatischer gehaßt als das Elend selber: Mit ihm paktieren. Das ist nun in der Tat etwas Bürgerliches; nicht nur in den kleinen mesquinen Formen der Schlamperei, sondern auch in den großen der Weisheit. In diesem Sinn ist Döblins Geschichte bürgerlich, und zwar viel beschränkender als nach Tendenz und Absicht, nämlich nach Abkunft. Was hier bestrickend und mit unverminderter Kraft von neuem auftaucht, das ist der große Zauber von Charles Dickens, bei dem Bürger und Verbrecher so herrlich aufeinander eingespielt sind, weil sie ihre Interessen (entgegengesetzte freilich) in einer und derselben Welt haben. Die Welt dieser Ganoven ist der Bürgerwelt homogen; Franz Biberkopfs Weg zum Zuhälter bis zum Kleinbürger beschreibt nur eine heroische Metamorphose des bürgerlichen Bewußtseins.
Der Roman, könnte einer auf die Theorie des »roman pur« antworten, ist wie das Meer. Er hat keine andere Reinheit als Salz. Was ist nun das Salz dieses Buches? Es ist aber mit dem epischen Salze wie mit dem mineralischen: Es macht die Dinge dauerhaft, mit denen es sich verbindet. Und Dauer ist in ganz anderer Weise als für die übrigen Werke der Dichtung ein Kriterium des Epischen. Dauer, nämlich nicht in der Zeit, sondern im Leser. Der wahre Leser liest Epik, um zu »behalten«. Und ganz bestimmt behält er zweierlei aus diesem Buch: Die Geschichte mit dem Arm und die Sache mit Mieze. Wie der Franz Biberkopf dazu kommt, daß man ihn unters Auto wirft, so daß er den Arm verliert? und daß man ihm die Freundin ausspannt und umbringt? Das steht schon auf der zweiten Buchseite. »Weil er vom Leben mehr verlangt als das Butterbrot.« In diesem Fall nicht fettes Essen, Geld oder Weiber, sondern etwas viel Schlimmeres. Wonach es seine große Schnauze gelüstet, das ist gestaltloser. Hunger nach Schicksal verzehrt ihn, das ist es. Dieser Mann muß den Teufel al fresco immer von neuem an die Wand malen; es ist kein Wunder, wenn der immer von neuem kommt und ihn holen will. Wie dieser Schicksalshunger gestillt, fürs Leben gestillt wird und der Zufriedenheit mit dem Butterbrot Platz macht, wie der Ganove zum Weisen wird, das ist der Hergang der Sache. Zum Schluß wird Franz Biberkopf schicksallos, »helle«, wie die Berliner sagen. Döblin hat dies Mannbarwerden an seinem Franz mit einem großen Kunstgriff unvergeßlich gemacht. Wie die Juden bei der Barmizwoh dem Kind seinen zweiten Namen bekanntgeben, der bis dahin geheim blieb, so gibt Döblin dem Biberkopf einen zweiten Vornamen. Er heißt von nun an Franz Karl. Gleichzeitig ist aber mit diesem Franz Karl, der zweiter Portier in einer Fabrik wird, etwas ganz Sonderbares geschehen. Und daß Döblin, obwohl er seinem Helden doch so genau auf die Finger sieht, dies nicht entgangen wäre, wollen wir nicht beschwören. An dieser Stelle nämlich hat Franz Biberkopf aufgehört, exemplarisch zu sein, und ist lebendig in den Himmel der Romanfiguren entrückt worden. Hoffnung und Erinnerung werden ihn in diesem Himmel, der kleinen Portierloge, über sein Gescheitersein trösten. Wir aber sehen ihm in seine Loge nicht nach. Denn das ist ja das Gesetz der Romanform: kaum hat der Held sich selber geholfen, so hilft uns sein Dasein nicht länger. Und wenn diese Wahrheit am großartigsten und am unerbittlichsten in der »Education sentimentale« an den Tag tritt, so ist die Geschichte dieses Franz Biberkopf die »Education sentimentale« des Ganoven. Die äußerste, schwindelnde, letzte, vorgeschobenste Stufe des alten bürgerlichen Bildungsromans.
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Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, von Alfred Döblin. Berlin: S. Fischer Verlag 1929.