Ich hatte von ihr schon 1958 gehört und sie auch gesehen, als ich das Franziskanergymnasium in Hall in Tirol besuchte und beim Zahnarzt Dr. Gruber wohnte. Ihr Haus nämlich war das Nachbarhaus. Und manchmal sah ich sie und ihre Kinder im Garten. Erst Jahrzehnte später begegneten wir einander. Sie gab sich immer als Grande Dame der Österreichischen Literatur, obwohl ich nicht weiß, ob sie außerhalb Österreichs bekannt ist. Sie war sehr katholisch, repräsentierte jedenfalls „das Katholische“ in der literarischen Öffentlichkeit. Eine gewisse Nähe damals zum Nationalsozialismus, belegbar durch Gedichte aus dieser Zeit, störte da nicht und (fast) niemanden; mich schon. Sie hatte in Linz und Oberösterreich, meinem Herkunftsland, immer eine Nähe zu kirchlichen und politischen Instanzen und Repräsentanten. Einmal habe ich für die Kulturzeitschrift „morgen“ auf György Sebestyéns Bitte hin eine Rezension über ein Buch von ihr geschrieben. In einem Brief an mich hat sie Freundliches über meine Gedichte formuliert. Ob das ehrlich war oder nicht, das weiß ich nicht. Meine kritische Haltung dem Katholizismus und einer daraus abgeleiteten Weltanschauung und dementsprechender Politik gegenüber, hat ihr nicht gefallen, das weiß ich.
Daß sie schon 1933 der österreichischen NSDAP beigetreten, bei einer Demonstration in Innsbruck das Horst Wessel-Lied mitgesungen und dabei den Hitlergruß dargeboten und den Führer, Adolf Hitler, auch als Idol verehrt hatte, und auch über ihre Nazi-Aussprüche über „die Juden“ und den Alten Jüdischen Friedhof in Prag – darüber breitete man später vornehm den Mantel des Verschweigens. Und das tat auch dem bürgerlichen Katholizismus, dem sie sich verpflichtet fühlte und den sie dann geradezu repräsentierte, sodaß man sie als Vertreterin des katholischen Schrifttums – es gibt ja auch einen „Katholischen Schriftstellerverband“ in Österreich – bezeichnen kann und muß, keinen Abbruch. Die Grande Dame der Österreichischen Literatur, als die sie sich gerne sah und bezeichnen ließ, residierte an ihrem Lebensabend in Leonding bei Linz. Manchmal, aber sehr selten, traf ich sie auch dort, im Stifterhaus oder im Ursulinenhof oder sonstwo. Auch in Wien und anderswo hat sie an Konferenzen und Tagungen teilgenommen, stets das Wort ergriffen und mit ihrem besonderen Sprachgesang ihre Meinung und ihren Standpunkt, wozu auch immer, dargelegt. Ich kann mich daran noch gut erinnern. Ich sehe sie noch vor mir: mit ihrem schlohweißen Haar, mit ihrem schmalen, asketisch wirkenden Gesicht, ihren langsamen Bewegungen, ihrer bedächtigen Ausdrucksweise, ihrer (scheinbaren?) Emotionslosigkeit. Zwischen ihr und „den Jungen“ gab es keine Verbindung. Wir hielten Abstand von ihr. Für sie existierten wir sowieso (fast) nicht; mit wenigen Ausnahmen. Alles was irgendwie „links“ war und nach „Revoluzzertum“ roch oder die „Ordnung“ in Frage stellte, verabscheute sie. Katholizismus und Konservativität – „reaktionär“ nannten wir diese Mischung – paßten da gut bei ihr zusammen. Auch wenn man in jungen Jahren für die neue Bewegung, die NSDAP und den Führer war. Aber das durfte man damals und darf man ja heutzutage ja nicht mehr sagen.
Jedenfalls war Gertrud Fussenegger ein langes Leben geschenkt; sie ist fast 100 Jahre alt geworden. Und natürlich gebührt ihr Respekt und Pietät; die Wahrheit aber auch.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010