Zwei mich tief beeindruckende Begegnungen, keine direkt persönlichen, sondern literarische, waren die beiden Lesungen in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur von Christine Lavant und von Ingeborg Bachmann; beide damals noch in dem sehr vitalen, heute heruntergewirtschafteten Palais Palffy am Josefsplatz in Wien. Die Lesung von der Christine Lavant war am 21. Mai 1965, die Einladungskarte liegt jetzt vor mir, gelesen haben frühe und neue Gedichte Käthe Gold und Eva Zilcher, die Einleitung hat der philosophisch und kulturell sehr engagierte Jesuitenpater Alfred Focke gehalten, der tragischerweise von einem seiner Sommerspaziergänge in gebirgiger Gegend nicht mehr zurückgekommen ist und dessen Leichnam bis heute nicht gefunden wurde. Ich erinnere mich noch gut. „Die Lavant“, eine von ihrem schweren Schicksal niedergedrückte, zerbrechliche Gestalt, betrat schüchtern und gebeugt den Saal. Sie war wie in eine ärmliche lange Kutte gekleidet, mit einem braunen Kopftuch auf dem Haupt. Sie blickte zu Boden, kaum ins Publikum; alle klatschten, begeistert und verehrungsvoll, denn sie war damals schon eine Dichterlegende. Ihre Erscheinung entsprach in Wirklichkeit genau dem Bild, das Werner Berg von ihr gemalt und ebenso als Holzschnitt angefertigt hatte. Große dunkle Augen, mit denen sie wie unberührt von allem in eine weite Ferne schaute. Dann eine kurze Kopfhebung, ein scheues Lächeln zum Publikum hin, und wieder senkte sie den Blick und das Haupt und zog sich in sich selbst, in ihre Einsamkeit auch zurück. Nie mehr habe ich einen Dichter, eine Dichterin in einer solchen Bescheidenheit und Zurückhaltung, ja Schüchternheit erlebt. Und dies bei einem solchen dichterischen Lebenswerk, wie es Lavant vorzuweisen hatte. Ich besaß damals schon die Lyrikbände „Der Pfauenschrei“ (2. Auflage 1968) und „Die Bettlerschale“ (4. Auflage 1972) und hatte mich – ebenso wie mit Georg Trakl – eingehend mit dem lyrischen Werk der Christine Lavant befaßt, das mich in seine Tiefgründigkeit hineingezogen, durch den poetischen Bilderreichtum bereichert und in seiner Expressivität sogleich angesprochen hatte. Da saß nun die Dichterin, draußen im Scheinwerferlicht, hörte ihre eigenen Gedichte, wie sie rezitiert wurden und war von all dem wie in eine unerreichbare Ferne entrückt. Im Saal war es – der Ausdruck paßt zur Lavant und ihren Gedichten – totenstill. Und nach der Lesung wurde zwar geklatscht, aber man spürte, daß fast jeder in seiner eigenen Nachdenklichkeit versunken war. Eine Frau, die beeindruckte und die Gedichte schrieb, die einen im Innersten berührten. Eine unvergeßbare Begegnung mit einer Dichterin und ihrer Literatur.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010