Das Maß des Menschlichen

Der Dichter und Freund Alois Vogel

Wenn ich an Alois Vogel denke, so sehe ich ihn fast immer wie in einem Bild vor mir: wie er an seinem Arbeitstisch sitzt, vielleicht an einem späten Novemberabend, von seiner Schreibarbeit aufblickt und hinausschaut in seinen Garten, auf die schon kahlen Äste der Bäume, auf noch manche am Boden liegende gelbbraune Blätter; wie er einen Vogel beobachtet, der vorbeifliegt oder sich an der Rinde eines Baumes zu schaffen macht; wie er vielleicht – schon etwas mühsam und mit Kreuzweh – aufsteht und hinunterschaut auf die hölzerne Sitzgruppe unter dem Nußbaum, an der viele Tag- und Nachtgespräche mit Freunden und Dichterkollegen, männlich wie weiblich, bei Wein und Brot und anderem stattgefunden haben; wo erzählt wurde, wo Meinungen und Standpunkte mitgeteilt wurden, wo man sich nähergekommen ist oder wo man die Nähe der gleichgesinnten Verbundenheit immer wieder erleben durfte; wo seine liebe Frau Trude mit dabeigesessen ist; wo es heiter war, aber auch allmählich still wurde, wenn es schon spät war. Wo all das gewesen ist und hoffentlich noch lange so sein wird, wie es sein kann, weil diese Stunden der Begegnung eine Kostbarkeit und eine Seltenheit geworden sind. Und ich bin dem Alois Vogel und seiner Frau Trude darob in Dankbarkeit und in Freundschaft zutiefst verbunden, ohne daß ich – so wie auch er – über so etwas weiß Gott wieviele Worte mache, sondern all das einfach dankbar annehme, so wie es ist.

Dieses Arbeitszimmer, dieser Garten, diese Sitzgruppe, dieser Nußbaum und die anderen Bäume, Sträucher, Blumen, Kakteen und alle Gerätschaften zur Gartenarbeit und eben das Haus, in dem die Vogel’s seit Jahrzehnten wohnen, steht in der Bahnstraße in Pulkau, schon etwas am Rande des Ortes, wo die Ortslandschaft dann nach dem großen Silo übergeht in Fluren, in Äcker, Felder und Wiesen; von wo man hinaufgehen kann zu einer Anhöhe oben an der breiten Schnellstraße, auf der die Autos vorbeirauschen, von wo aus man aber einen herrlichen Blick zurück hat auf den vor sich ausgebreiteten Ort, auf die Häuser und Kirchen, auf die Dächer und Türme, auf die Straßen, Gassen und Wege, die den Ort durchziehen so wie der kleine Fluß mit seiner schönen Au. Und rundherum die Weinberge, die der Landschaft ein fast südliches Gepräge geben, vorallem dann, wenn die Sonne scheint und die Farben leuchten, das frische Grün im Frühling und das Rot und Gelb des Laubes im Herbst. Und wenn die Trauben an den Rebstöcken hängen als Frucht harter menschlicher Arbeit und als alljährlich wiederkehrendes Gottesgeschenk der Natur.

Da kann ich mir den Alois Vogel gut vorstellen, wie er hinunterschaut auf sein Pulkau und hinaus in die Landschaft, die er gut kennt, auch in ihrem Wesen, in ihrer Mitteilung; denn er hat dies alles auch beschrieben, aufgenommen in sich und wiedergegeben in seinen Gedichten, in seiner Prosa, in seinem literarischen Werk. Eine untrennbare Zugehörigkeit ist da erkennbar, auch eine Liebe zur Landschaft, zu diesem Ort und seinen Menschen, zu ihrer Persönlichkeit und ihrer Lebenskultur. Alois Vogel liebt und schätzt das Einfache. Er bewundert vielleicht die verschnörkelte Kunstfertigkeit einer reichen barocken Kirchenausstattung, aber näher ist ihm doch der behauene graue Stein, der sich im Netzgewölbe einer gotischen Kirche zur Höhe emporwindet, oder ein romanisches Kapitell in einer Krypta, auf dem das Gewicht der Oberkirche wie das Gewicht der Welt ruht. Diese Vorliebe für das Einfache entspringt seiner eigenen Grundhaltung, jener der Schlichtheit, der Bescheidenheit, die bei ihm fast eine Tugend ist. Denn das hat etwas mit Wahrhaftigkeit und mit dem eigenen Stellenwert zu tun, den man sich erarbeiten muß, den man sich selbst nicht einfach zuteilen kann und darf. Das ist die Grundlage des eigenen Menschseins und die des Zusammenseins in einer Gemeinschaft. Vielleicht lebt Alois Vogel deshalb hier in Pulkau mit seiner Frau, weil das Leben hier noch anders ist als in der Anonymität einer großen Stadt.

Wenn ich an Alois Vogel denke, so sehe ich ihn auch im Kreis seiner Freunde, seiner Kolleginnen und Kollegen, so wie hier in Pulkau und anderswo, bei verschiedenen Anlässen, bei Symposien und Tagungen, bei Lesungen und Sitzungen und nachher bei einem Glas Wein oder einem Kaffee in einem Gasthaus oder Espresso, bevor man sich voneinander verabschiedend auseinandergeht. Immer sehe ihn als aufmerksamen und geduldigen Zuhörer, der sich alles anhört, das Gesagte mitdenkt, hinterfragt, nie unterbricht. Seine Einwände kommen erst dann, wenn andere – wie zum Beispiel ich – sich schon längst vorgedrängt und lautstark zu Wort gemeldet und ausgeredet haben, und auch dann eher zögernd, zurückhaltend, bedächtig, fast leise. Und nie ist er schulmeisterlich – auch und schon gar nicht den Jüngeren gegenüber – sondern stets formuliert er alles als seine eigene Meinung, manchmal als Frage, immer als Gesprächsbeitrag. Aber gerade diese unaufdringliche Art zwingt die Umstehenden oder die Dasitzenden, sich ihm zuzuwenden, ihm zuzuhören, sich zu bemühen, seine Worte zu hören, seine Gedanken aufzufassen, zu bedenken, zu verstehen. Und nicht selten hat dann der Alois Vogel auf diese Weise nach oft langen und intensiven und emotional geführten Auseinandersetzungen das letzte Wort. Und alle kommen dort an, wo er ist, vielleicht schon von Anfang an gewesen ist, bei seinem Standpunkt, den er schon längst aus seiner Erfahrung, seiner Einsicht und seinem Wissen gebildet hat. Was Alois Vogel sich nämlich in seinem Leben und mit seinem Schreiben erarbeitet hat, ist ein festgefügtes Weltbild, das er in seiner Literatur darstellt und trotzdem in seinem Leben und in seinem Werk lebenslang nach seiner Gültigkeit hinterfragt, ohne es in seiner Gesamtheit in Frage zu stellen. Alois Vogel ist ein Skeptiker, der dem Menschen mißtraut, der den guten, den unverdorbenen Menschen aber liebt.

Immer geht es bei Alois Vogel um Lebensfragen; in seinen Gedichten, in seiner Prosa, in seiner gesamten Literatur. Immer geht es um den Menschen, wo und wie er lebt, um das, was er tut und um das, was er leidet, was ihn betrifft. Und dabei geht es nicht um pompös orchestrierte Schicksalssymphonien, um einen großen philosophischen Ansatz zur Welterkennung und Weltdeutung, um ontologische Interpretation, sondern um das tatsächlich gelebte Leben, natürlich vor dem Bewußtseinshintergrund seiner Bedingtheit und seiner Endlichkeit. Der Blick ist auf das alltägliche personenbezogene Ereignis gerichtet, auch wenn sich dieses oft nur wie eine Winzigkeit in der überwältigenden und oft auch erdrückenden Weltarchitektur ausnimmt. Jede Frage ist eine individuelle, eine persönliche, eine subjektive; und dies gilt auch für eine mögliche Antwort. Vieles bleibt ohnedies im Bereich des Nicht-Beantwortbaren, im Dunkel der menschlichen Existenz und im Rätselhaften, im Unbegreifbaren der Menschheitsgeschichte. Das Nachfragen und das Hinterfragen wird zur Spurensuche nach dem eigenen Leben und nach dem Lebensgeheimnis überhaupt. Lebensschicksale werden in der Literatur von Alois Vogel in ihrer Verflochtenheit mit anderen dargestellt, aufgedeckt, begreifbar gemacht. Charaktere werden an Handlungs- und Verhaltensweisen von Personen sichtbar und auch bewertbar. Geschichten werden erzählt in der Prosa; Augenblicke, Gedanken, Gefühle und Stimmungen werden wiedergegeben und zur Sprache gebracht in der Lyrik, im Gedicht, in dem auch das Schweigen seinen Platz und seine Zugehörigkeit zum Wort hat, und so erst dem Gesagten Raum gibt, daß dieses weitergedacht werden kann von dem, der es aufnimmt in sich.

Viele Menschen an verschiedensten Orten haben Alois Vogel bei seinen Lesungen zugehört. Viele Freunde und Literaturverständige haben ihn als Mensch und Dichter gewürdigt; seine herausragende jahrzehntelange Arbeit im Literaturkreis Podium, seine Herausgeberschaft und Redaktionstätigkeit bei der gleichnamigen Literaturzeitschrift und bei der Grasl-Lyrikreihe dargestellt; auf seine Impulsgebung durch die von ihm initiierten Literatursymposien 1989 und 1990 in Pulkau und auf die von ihm organisierten Lesungen hier und andernorts hingewiesen. Er hat damit Großes und Wertvolles geleistet, wofür wir Kollegen und Kolleginnen, aber auch alle Literaturliebhaber und vorallem auch die Ortschaft Pulkau ihm zu Dank verpflichtet sind.

Hinter all den Aktivitäten, Veranstaltungen und unnachgiebigen Bemühungen des Alois Vogel über Jahrzehnte hinweg, hier in Pulkau und in Wien, stand als Beweggrund sicherlich eine Überzeugung, die sich in einer unbeugsamen, auch durch so manchen Rückschlag nicht beirrbaren Haltung manifestierte. Wenn ich hier nachfrage und mich – weil zur Interpretation eines Dichtermenschen notwendig – wiederum auf sein literarisches Werk beziehe, so meine ich, daß der Grund für diese Orientierung in der Hoffnung, ja vielleicht sogar in dem möglichen Glauben von Alois Vogel zu sehen ist, daß der Mensch trotz seiner Uneinsichtigkeit doch bildungsfähig ist – auch in moralischem Sinn; und daß dafür alles getan werden muß, was im eigenen Vermögen liegt. Und daß man es gemeinsam tun soll, weil Gemeinsamkeit und Gemeinschaft an sich schon ein Wert sind. Der homo socialis, der Mensch als soziales Wesen, ist es, um den es immer wieder bei Alois Vogel geht, sowohl in seiner Literatur, als auch in seinem Leben.

Und dabei genügt es ihm nicht, im bereits geschaffenen vertrauten Umfeld, sozusagen im eigenen Terrain zu verbleiben und sich damit zufriedenzugeben; nein, immer war der Alois Vogel ein Mensch, der neugierig ist, auch auf alles andere, das bisher außerhalb seines gewohnten Blickfeldes lag. Immer war und ist er einer, der über Grenzen hinausschaut, auch über die eigenen. So war es auch mit den beiden Podium-Symposien in Pulkau 1989 und 1990. Sogleich nach der sogenannten „Wende“, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nach dem Ende des Kommunismus in Europa setzte Alois Vogel mit diesen beiden Veranstaltungen ein sichtbares und wichtiges Zeichen – weit über die Grenzen der Literatur hinaus. Es ging nicht nur um die Neugier auf das, was in unseren Nachbarländern – vorallem jenen im Osten – vor sich ging, sondern hier wurde eine Plattform geschaffen, sowohl auf der Ebene des intellektuellen Dialogs, als auch auf der des freundschaftlichen Zusammenseins in einem Ort nahe einer Grenze, die vordem verschlossen war und die sich nun öffnete. Es ging hier um Vermittlung und um Begegnung. Das war das Wesentliche an diesem Ereignis.

So wenig an Zeit vielleicht zwei Tage im Leben eines Menschen sind, so entscheidend, so prägend, so fruchtbar können sie sein. Das erfährt man bei und an solchen Zusammenkünften. Impulse gehen davon aus, für das eigene Nachdenken und manchmal auch für den Lebensweg. In solchen Begegnungen teilen sich Menschen einander mit, manchmal vertrauen sie sich auch einander an; Freundschaften entstehen aus bisherigen Bekanntschaften. Lebenswege berühren sich, kreuzen sich, verbinden sich. Fragen werden gestellt, Antwortversuche werden gegeben. Etwas Gemeinsames entsteht, das spürbar und auch wirksam – manchmal über eine längere anschließende Zeit – verbindet. In vielen Menschen, die an solchen Zusammenkünften und Begegnungen, an einem solchen Sichaustauschen teilgenommen und sich dem hingegeben haben, bleibt eine wirksame Erinnerung zurück; und eine mit ihr verbundene Erfahrung.

Das ist der Kern von dem, was Alois Vogel geleistet hat; nicht nur für die Literatur, sondern vorallem für die menschliche Begegnung – vielleicht im Rahmen, ja im Raum der Literatur, aber auch darüber hinaus. Er hat viele Autoren und Autorinnen und deren Literatur, viele Intellektuelle und deren Gedanken, und nicht wenige seiner Freunde miteinander in Beziehung gebracht. Und daß viele wesentliche Ereignisse in Pulkau stattgefunden haben, ist kein Zufall, sondern ein von Alois Vogel selbst bedachtes Kalkül. Denn er ist einer, der Beziehungen und Freundschaften pflegt, sie auch gerne an einem bestimmten Ort ansiedelt und an daran bindet; denn dies ist etwas, so scheint es mir, das von ihm gegen die Unbehaustheit im Leben gesetzt und aufrecht erhalten wird, als Schutzraum, zu dem Zerstörung keinen Zugriff hat, nicht haben soll. Vielleicht geht dieses Lebensgefühl – eigentlich eine Sehnsucht – bei ihm auf Erlebnisse und Eindrücke, auf Selbsterfahrung in schwerer Kriegszeit zurück; denn immer wieder, auch Jahrzehnte später, spiegelt sich dies in seiner Literatur wieder und wird zur Sprache gebracht.

Gerne würde ich den Dichter und Freund Alois Vogel fragen, was er unter dem Begriff Heimat versteht und subsumiert. Und ich bin mir sicher, daß er darauf keine intellektuelle Begriffserklärung abgeben würde, sondern vielleicht ganz einfach sagen könnte: Heimat ist dort, wo der Mensch herkommt und wo er ankommt. Und das ist nichts Zufälliges, sondern in der Regel für jeden Menschen etwas Bestimmtes. Dazwischen ist Freiraum und Freiheit. Geborgenheit, aber auch Gefährdung. Und das alltägliche Leben, von dem es dann – wie in seinem Gedicht „Die Vögel kehren nicht wieder“ – heißt: „Dieses und jenes/getan/Das Brot gebacken/die Straße gekehrt/das Haus gemauert/den Blick zum Himmel geworfen/den Vögeln nach/den Wolken // Dieses und jenes/unterlassen/ein Wort/eine Zuneigung/eine Umarmung/Notwendiges und Nicht-Notwendiges/ Es krächzen/die Krähen // Das Haus/verfällt/Die Straße/zerbröckelt/Das Brot/schimmelt/Die Vögel kehren nicht wieder“.

Endlichkeit und Endgültigkeit sind Grundbegriffe, die in der Literatur und im Lebensbild von Alois Vogel einen zentralen Platz einnehmen. Und die Skepsis ist ein immer wieder sich zu Wort meldendes Lebensgefühl, ja eine Lebenshaltung dieses Dichters. „Machen wir uns keine allzugroßen Hoffnungen“ mahnt er in seinem Gedicht „Der Stern von Bethlehem“. Er spricht nicht von Hoffnungslosigkeit, nicht von Resignation, nicht von Verzweiflung, nicht vom Chaos und nicht vom gewalttätigen Tod. Nein, er mahnt nur zum menschlichen Maß, mahnt und fordert dieses ein, es nicht aus dem Auge zu verlieren in möglicher Blindheit. Denn „Alles ist eines,/ohne ein Maß“, sagt er im Gedicht „Winter in der Ukraine“.

So eine Erkenntnis, so eine Einsicht zu haben und diese – in der Literatur und im Leben – weiterzugeben, das ist Aufgabe und Erfüllung zugleich. Und dafür, daß der Dichter und Freund, „unser“ Alois Vogel durch seine Haltung diese Wahrheit vom Maß des Menschlichen stets überzeugt und überzeugend an uns weitervermittelt hat, dafür danken wir ihm, in Wertschätzung und Freundschaft.

 

 

 

Alois Vogel war ein österreichischer Dichter und Schriftsteller. 1971 Gründungsmitglied und Generalsekretär, später Obmann (1986-90) des Literaturkreises PODIUM und 1976-92 Herausgeber der Reihe „Lyrik aus Österreich“. Lebte in Pulkau im Weinviertel. Geboren am 1. Jänner 1922 in Wien-Favoriten, gestorben am 2. April 2005.

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