Lyrische Novelle 5

 

Ich bin den ganzen Nachmittag im Wald gewesen. Zuerst lief ich gegen den Wind über ein grosses Feld, es war anstrengend, ich fror, und der Waldrand war wie ein Obdach. Nirgends war ein Mensch, ich blieb einmal stehen und sah mich um, und die herbstliche Verlassenheit der Landschaft dämpfte meine Traurigkeit. Der Himmel war grau, von dunkleren Wolken durchjagt, Regenschauer gingen strichweise auf die Erde nieder. Und die Erde nahm sie gelassen auf.

Ich ging weiter, und die schweren Erdschollen hemmten mich. Aber dann war ich im Wald, Laub raschelte, nackte Sträucher streiften mich, ich bog sie auseinander, der Wind hatte sich plötzlich gelegt.

Dicht vor mir sprang lautlos ein Tier empor, es war ein grosser graubrauner Hase, er schnellte geschmeidig über die Wurzeln, duckte sich zusammen und verschwand dann pfeilschnell im Waldinnern. Ich sah sein Nest, rund ausgelegt unter den Sträuchern, bückte mich und legte die Hände auf die Stelle, wo sein pelzumhüllter Körper gelegen war. Eine Spur von tierischer Wärme war zurückgeblieben, die ich mit unbekannter Erschütterung empfand. Ich neigte mein Gesicht und schmiegte es an diese Stelle, und es war ein winziges Atmen und beinahe wie eine menschliche Brust.

Ich komme von den Feldern zurück. Die Erde klebt an meinen Schuhen, darum gehe ich langsam, wie ein Bauer. Manchmal vergesse ich, warum ich hier bin, auf der Flucht sozusagen, und bilde mir ein, schon lange hier gelebt zu haben. Aber wenn ich ein wirklicher Bauer wäre, wüsste ich, was auf diesen Feldern gesät, wieviel geerntet wird und welcher Boden der fruchtbarste ist. Das weiss ich alles nicht. Ich denke manchmal, dass den Bauern ihr Wissen vom Himmel kommt, weil sie fromm und von den Gewalten des Himmels abhängig sind. Ich gehe wie ein Fremder über die Felder und bin nur geduldet. Jetzt hasse ich mich plötzlich, weil ich ohne Verpflichtung bin. Hier, auf dem Lande, verstehe ich Gides »Immoraliste« und bin ihm verwandt, mit gleicher Sünde beladen, einer feindlichen, imaginären und fruchtlosen Freiheit ausgeliefert.

– Die Leute wissen ja nicht, was Sünde ist. –

Ja, nun schäme ich mich vieler Dinge und würde gern Gott um Verzeihung bitten. Wenn ich nur fromm wäre.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.