Lyrische Novelle 13

 

Dann lernte ich Erik kennen. Er kam aus Schweden und war mit Magnus verwandt, aber das wusste ich gar nicht, ich traf ihn in der Bar des Walltheaters, und Sibylle machte uns miteinander bekannt. Er fragte mich, ob ich Ski laufe. Sobald es Schnee gebe, sagte er, wolle er in die Schweiz fahren und da drei Monate bleiben. Er hatte eine Frau und zwei Kinder, deren Bilder er in seiner Brieftasche trug. Er zeigte sie mir, als er die Brieftasche herauszog, um zu zahlen. Er hatte auch einen Beruf, aber er schien das nicht wichtig zu nehmen, er sprach nie davon. Übrigens schien Sibylle ihn schon lange zu kennen. Er gefiel mir gut. Er trank nur einen Whisky, und in derselben Zeit trank ich drei Cognacs und dazwischen auch Whisky. Er sah es und sagte, es würde mir sicher nicht gut bekommen. Da legte ihm Sibylle die Hand auf die Schulter und sagte: »Das kannst du ruhig mir überlassen.«

Ich fand es merkwürdig von ihr und wagte nicht mehr recht, ihn anzusehen. Er ging dann bald weg. Sibylle ging mit ihm hinaus, kam aber wieder zurück, bestellte zu trinken und sah mich überhaupt nicht an. Als sie ihren Mantel holen liess, bezahlte ich und ging mit ihr fort. Heute war kein Hund auf der Strasse. Willy stand neben der Tür, als wir in den Wagen stiegen. Sibylle kippte den Stuhl um und fragte, ob er mitfahren wolle. Er sah mich an und sagte: »Sie haben vergessen, das Licht anzuzünden.« Ich antwortete: »Warum sagst du eigentlich Sie zu mir?« Sibylle sah geradeaus und gab mir den Weg an. Es war ungefähr vier Uhr morgens, neblig, und die Strasse war sehr glatt. Ich fuhr langsam, aber Sibylle war entsetzlich ungeduldig und stampfte von Zeit zu Zeit mit dem Fuss auf. Ich gab Gas und hielt die Zähne zusammengepresst. Ich fuhr nicht sehr achtsam, und plötzlich ragte vor uns ein dicker Baumstamm auf. Er stand mitten in der Kreuzung zweier Strassen und wirkte mächtig wie ein rauhhäutiger Koloss in der feuchten, nebelverhängten Dunkelheit. Ich weiss nicht genau, wie ich daran vorbei kam. Sibylle sagte plötzlich: »rechts«, mit ihrer eigentümlich tiefen, besänftigenden Stimme, und dann waren wir schon in der nächsten Strasse.

Wir fuhren sehr lange. Endlich fragte ich, wohin Sibylle denn fahren wolle. »Wohin?« sagte sie. »Das weiss ich auch nicht. Warum brauchen wir es zu wissen.« Ich fuhr an eine Tankstelle, sie war geschlossen, ich fragte an der nächsten Strassenecke einen Chauffeur, wo man eine Nachtstation finden könne. Bis dorthin war es ziemlich weit, und ich hatte kein Wasser mehr im Kühler.

»Erik hat dir gefallen?« fragte Sibylle.

»Er ist sehr klug.«

Ich sah auf das Schaltbrett und fuhr wieder langsamer.

»Der Wagen geht zum Teufel bei dieser Behandlung«, sagte ich. Das war übertrieben, aber ich war wütend und traurig, und ich liebe den Wagen. Ein Drittel davon habe ich selbst verdient, die beiden andern Drittel hat mein Vater bezahlt, bevor er wegen der grossen Ölbohrungen nach Russland fuhr.

Endlich waren wir an der Tankstelle.

Es war eine Olexpumpe, und der Mann war sehr freundlich. Ich versuchte, den Wasserdeckel aufzuschrauben. Aus dem Kühler stieg Dampf in runden Wolken. Es war sehr kalt, aber das Metall war so heiss, dass ich es mit blossen Händen nicht anfassen konnte.

Als ich aufsah, dachte ich plötzlich daran, dass ich im vollen Lichtschein der beiden Scheinwerfer stand, und ringsum war es dunkel. Ich stand wie auf einem erleuchteten Podium inmitten der dunklen Welt, und eigentlich gab es nur noch, wie Meer und Insel, die ungeheure Nacht und uns, den Wagen, den Mann von der Tankstelle, mich und Sibylle. Die vordere Scheibe des Wagens war beschlagen, aber dahinter sah ich Sibylles Gesicht unwirklich auftauchen und ihre Augen, schimmernd wie blasse Blumen.

Jetzt fühlte ich auch die Kälte nicht mehr. Ich wollte zahlen, ich hatte nur grosses Geld, Sibylle öffnete die Tür und gab mir zwei Fünfmarkstücke. Der Mann grüsste, und wir fuhren weg. Erst jetzt bemerkte ich, dass Willy nicht mehr im Wagen war.

Wir verirrten uns bald darauf. Die Strassen waren leer, man konnte niemanden um Auskunft fragen. Wir fuhren immer sehr rasch.

Dann kamen wir über eine Brücke, wir hätten es vielleicht nicht bemerkt, wenn nicht das Geräusch des fahrenden Wagens sich plötzlich verändert hätte. Ich hielt auf der rechten Seite, die Brücke war nicht beleuchtet, aber die Scheinwerfer erhellten eine keilförmige Bahn, im Schatten sahen wir mächtige Betonpfeiler aufragen und darüber dunkles Eisenwerk, weit gespannte Bögen, durch viele Rippen gestützt und verbunden. Ich öffnete das Fenster und beugte mich hinaus. Das Wasser floss unter uns rasch und mit grosser Gewalt, ein wenig Licht fiel auf die Oberfläche, so dass man die sich überstürzenden, unruhigen und in vielen Wirbeln zusammenstossenden Wellen sah. Darüber wölbte sich ruhig der Himmel, und wir hingen dazwischen, kaum mehr auf der Erde.

»Schön«, sagte ich.

»Ja«, sagte Sibylle.

»Was die Leute sich dachten, als sie die erste Brücke bauten?«

»Sie wollten an das andere Ufer. Sie legten einen Baumstamm von einem Ufer zum anderen.«

»Bei den Indianern gibt es Hängebrücken. Sie schwanken, wenn man darüber geht. Und sie hängen über Abgründen.«

»Aber jetzt baut man herrliche Brücken. In New York zum Beispiel. Und in Schweden kenne ich eine Betonbrücke, welche aussieht, als sei sie aus weissem Glanzpapier ausgeschnitten, mit vielen zarten Pfeilern.«

»Wir sollten zu den Indianern reisen«, sagte ich. »Wir sollten uns Geld verschaffen.«

»Nichts leichter als das«, sagte Sibylle. »Aber du kannst ja nicht fort. Man lässt dich nicht fort.«

»Nichts leichter als das«, sagte ich.

Sibylle fing wieder an zu rauchen. Sie rauchte fast immer, während wir fuhren, und gab auch mir manchmal eine Zigarette, die sie selbst anzündete und mir dann zwischen die Lippen schob.

»Es könnte dich deine Karriere kosten«, sagte sie.

Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, dass ich Diplomat werden will. Mein Vater hat mir dazu alle Wege geebnet. Er verlangt, dass ich das juristische Studium beende und daneben französischen und englischen Unterricht nehme. Diese Sprachstunden hatte ich übrigens schon seit Wochen ganz vernachlässigt.

»Es könnte dich deine Karriere kosten«, sagte Sibylle. Ich konnte mir unter dem Wort »Karriere« nichts mehr vorstellen. Es war ein leeres Wort.

»Was ist das heutzutage«, sagte ich verstimmt. Magnus und ich hatten oft besprochen, dass unserer Generation wenig geblieben sei, aber dafür der ungeheure Vorzug der Freundschaft. Wir meinten damit, dass alle normalen Voraussetzungen fehlten, alle erstrebenswerten Ziele unsicher seien, jede Stabilität aus unserem Leben entwichen sei. Wir meinten, dass man dadurch geradezu auf die letzte Wertlosigkeit solcher Lebensziele gestossen werde, man verliere den bürgerlichen Ehrgeiz, man sehe die dünne Luft des Erfolges und gewöhne sich früh an die sogenannte »Resignation« der Fünfzigjährigen. Bei Leuten von zwanzig Jahren enthalte sie aber eine grössere Heiterkeit und Tapferkeit, eine Note positiven Verzichtes.

Wir dachten, dass es ein grosses Glück sei, gleichgestimmte Freunde zu finden und sich ihnen brüderlich verbunden zu fühlen. Mit ihnen irgendwo zu leben, zu reisen, nachzudenken, sich innerlich aneinander zu stärken und sich zu lieben, schien uns unser Vorrecht. Aber trotzdem war ich noch nie ernstlich auf den Gedanken gekommen, auf meine Berufsaussichten zu verzichten. Jetzt stellte ich mir vor, dass ich mit Sibylle reisen könnte, und vor mir erstanden Hafenstädte, breite Flüsse mit schaukelnd getriebenen Booten, Steppen, wandernde Tierherden, Flugplätze mit frischen Holzbaracken, Lastautomobile auf weissen Strassen und glühende Sonne über gedeckten Veranden.

»Am besten würden wir dann gar nicht mehr zurückkommen«, sagte ich. Dann bemerkte ich, dass Sibylle lächelte und geradeaus sah. Sie schien nicht mehr an die Brücken zu denken.

»Fahren wir«, sagte sie.

Ich richtete mich auf und tastete im Dunkeln nach dem Schlüssel.

»Ich kann aber nicht mehr«, sagte ich.

Ich wurde so plötzlich von Mutlosigkeit befallen, als hätte mich jemand aus übermüdetem Schlaf geweckt.

Sibylle sah mich schweigend an.

»Ich kann nicht mehr«, wiederholte ich. Und dann begann sich die Nacht wirbelnd um uns zu drehen. Ich presste die Hand vor die Augen, bunte Kugeln lösten sich aus der Dunkelheit, näherten sich meinem Gesicht, wuchsen gross an, blendeten mich und zersprangen. Übelkeit stieg mir würgend in die Kehle. Ich drehte den Kopf, als könne ich mir dadurch selbst entgehen.

Sibylle wandte sich plötzlich zu mir und legte ihre Hände um mein Gesicht. Ihre Hände waren kühl. Es war, als lege man meinen Kopf auf frisches Leinen.

Nach einiger Zeit gab sie mir etwas aus einer kleinen Flasche zu trinken, die sie bei sich trug. Es schmeckte sehr stark, und ich trank es mit Widerwillen. Sie hatte meinen Kopf an ihre Schulter gelegt und mir wurde besser. Manchmal streifte mich ihr Atem, wie wenn wir zusammen tanzten, und manchmal presste sie ihr Kinn und ihre Wange einen Augenblick gegen meine Stirn.

Ich liess den Motor anspringen, und wir fuhren. Es kostete mich eine unbeschreibliche Anstrengung, geradeaus zu fahren. Ich glaubte jede Sekunde, das Rad nicht mehr halten zu können. Die Strasse wogte auf und ab, Bäume, Laternen, ja selbst die gerade Linie des Gehsteigs wurden mir erst im letzten Augenblick sichtbar. Sie stürzten gleichsam in mein Blickfeld und verwirrten mich. Sibylle berührte mit der linken Hand meine Schulter. Das beruhigte mich. Manchmal griff sie fester zu. Ich fuhr wohl sehr langsam, denn sie schob plötzlich entschlossen meinen Fuss vom Benzinhebel weg und gab selbst Gas. Es war eine gefährliche Fahrweise. Nach kurzer Zeit hielt ich an, öffnete die Tür und sagte: »Jetzt kannst du fahren.«

Sie schien ein wenig erschrocken, aber sie sagte nur: »Wenn du willst . . .« und blieb einige Sekunden sitzen und sah mich an. Dann wechselten wir die Plätze. Ich wusste nicht einmal, ob sie fahren konnte, aber ich war so müde, mir war das schon gleichgültig.

Sie fuhr nicht gleich an, deshalb schaltete ich für sie ein, bis wir im dritten Gang waren, dann lehnte ich mich zurück und sah durch die leicht beschlagene Scheibe hinaus. Wir waren auf der Heerstrasse, irgendwo weit draussen. Wir fuhren sehr rasch. Manchmal näherte sich der Wagen einer Strassenseite, als werde er von einem Magneten angezogen. Das war sehr gefährlich, und ich musste oft im letzten Augenblick, dicht vor einem Randstein oder einem anderen Hindernis, das Rad nach der anderen Seite drehen.

Jetzt wurde es schon hell, eine leichte Nebelschicht wogte durch den Wald, nur etwa einen Meter hoch über dem Boden, und hüllte die Stämme der Fichten ein. Als ich den Kopf wandte, sah ich eine schwache Röte am Himmel. Sonst war alles eisgrau, kalt und windstill. Wir näherten uns der Stadt, und ich setzte mich wieder an das Steuer. Sibylles Gesicht war verändert, sie schien sehr müde zu sein, aber sie war weniger blass als gewöhnlich, und ihre Augen glänzten stärker. Als sie vor ihrer Haustür ausstieg, presste sie meine Hand an ihre Wange und sagte, dass ich ihr versprechen müsse, vorsichtig nach Hause zu fahren und keinesfalls vor Mittag aufzustehen. Ich fuhr bis zu meiner Wohnung und liess den Wagen auf der Strasse stehen. Es war jetzt ganz hell. Ich fühlte mich ziemlich wohl und ging, ohne den Fahrstuhl zu benützen, in den zweiten Stock hinauf. Im Schlafzimmer hatte das Mädchen die schwarzen Vorhänge gezogen, es war dunkel, und ich legte mich sofort in mein Bett. Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an die Fahrt und stellte mir vor, wie irrsinnig gefährlich es gewesen war. Sibylle war so rasch gefahren, wir hätten uns wahrscheinlich überschlagen, wenn wir gegen einen Randstein geprallt wären. Aber das war es ja nicht. Etwas anderes war viel schlimmer: Ich stellte fest, dass es mir gleichgültig gewesen wäre zu verunglücken. Sibylle fragte mich: »Hattest du Angst?« Und ich sagte nein, und es war ehrlich. Ich war zu müde, um Angst zu haben. Ich dachte, wenn sie Lust hat, dass wir uns die Köpfe einstossen, soll sie es eben versuchen.

Und jetzt, auf meinem Bett kniend, war es mir immer noch gleichgültig, ich konnte dem Gedanken, dass ich hätte sterben können, kein Grauen abgewinnen. Aber als ich das feststellte, ergriff mich eine Art von Verzweiflung, ich warf mich nieder und weinte fassungslos und fürchtete zum erstenmal das Leben.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.