Lyrische Novelle 14

 

Am nächsten Tag schlief ich bis mittags. Einmal kam das Mädchen herein, es war gegen elf Uhr, und stellte Kaffee auf einen niedrigen Tisch neben mein Bett. Sie fragte auch, ob sie mir etwas zu essen bringen dürfe, aber ich sagte, dass ich mich sehr schlecht fühle und am liebsten weiterschlafen wolle. Als ich zwei Stunden später aufstand, wurde mir übel. Ich musste mich wieder hinlegen und war ganz in Schweiss gebadet. Ich lag, ohne mich zu bewegen, bis nebenan das Telephon läutete. Es war Erik. Er fragte, ob ich mit ihm frühstücken wolle, er würde mich in einer halben Stunde abholen. »Sie fordern meine Fürsorge heraus«, sagte er.

Ich badete und zog mich an. Dabei war mir immer schwindlig, wie jetzt fast jeden Vormittag. Schliesslich dachte ich, dass man sich an diesen Zustand gewöhnen könne.

Erik kam sehr pünktlich. Er warf zuerst einen Blick auf meine Bücher und blieb dann vor dem Schreibtisch stehen. »Arbeiten Sie sehr viel?« fragte er. »Sie studieren noch, Sie sind sehr glücklich.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. »Ich bin immer ein Abenteurer gewesen«, sagte Erik. »In Ihrem Alter war ich, glaube ich, ein geistiger Abenteurer.«

Über dem Schreibtisch hing eine grosse Photographie von Sibylle. Sie trug kurze Hosen und ein offenes, grosskariertes Hemd. Das weisse Gesicht war übermässig stark beleuchtet und wirkte beinahe maskenhaft. Aber man erkannte doch den eigentümlich gedämpften, wie aus vielen Dunkelheiten dringenden Schimmer der Augen. »Sie hat wunderbare Augen«, sagte Erik. »Gestern habe ich Magnus gesehen. Wissen Sie, was er von Ihnen sagte? Aber nehmen Sie Ihren Mantel, wir wollen gehen. Also, er sagte, Ihnen sei nicht zu helfen. Sie seien zu jung, um solchen Erschütterungen standzuhalten. Jawohl, Sie seien anfällig und erotisch versklavt wie ein Primaner. Es war nicht sehr freundlich ausgedrückt. Ich nehme an, dass Magnus Sie liebt und dass es ihn kränkt, die Achtung vor Ihnen verlieren zu müssen. Strindberg sagt irgendwo: ›Es ist schade um die Menschen‹ –«

Das Gespräch war mir sehr unangenehm. Wenn man leidet, erträgt man es nicht gern, dass die Leiden nicht ernst genommen werden.

»Magnus weiss wohl genau Bescheid«, sagte ich.

»Nein«, sagte Erik. Er parkte vor dem »Atelier«, ein Schupo sagte ihm, dass er näher an den Randstein fahren müsse. Er tat es, und ich wartete auf ihn. Ich fror. Dann gingen wir hinein, und Erik bestellte sorgfältig das Essen. Er behandelte mich wie ein kleines Kind. Ich erinnere mich noch an alle Einzelheiten dieser Mahlzeit, weil ich zum erstenmal wieder mit Bewusstsein an einem sorgfältig gedeckten Tisch heisse und angenehme Gerichte ass. Dazwischen sprachen wir, es war ein sehr vorsichtiges Gespräch, ein Gespräch zwischen heimlichen Gegnern. Plötzlich fragte ich:

»Lieben Sie denn Sibylle?«

Er schwieg und schien überrascht. Sehr langsam antwortete er dann:

»Ich bin vor zwei Jahren jeden Abend in ein schlechtes Kabarett in Brüssel gegangen. Dort war Sibylle. Aus welchem Grunde glauben Sie, dass ich jetzt in das Walltheater gehe?«

Ich kannte ihn ja gar nicht, aber ich hatte Angst, dass er mich als seinen Rivalen betrachten würde. Ich hatte in diesem Augenblick einen Freund nötig, und ich war sehr allein.

»Soll ich gehen?« fragte Erik. »Vielleicht wollen Sie, dass ich verschwinde?«

»Nein«, sagte ich, »das würde nichts helfen.«

Ich wusste genau, dass es mir bei Sibylle nichts helfen konnte, wenn Erik wegging. Und wir hatten sie auch gar nicht um ihre Meinung gefragt.

»Die Leute sagen, Sibylle sei ein kalte Frau«, sagte Erik. – »Lieber, Sie essen ja nichts. Wir werden von anderen Dingen sprechen.«

»Ich habe seit Wochen nur an Sibylle gedacht«, sagte ich. Erik schob mir eine Platte zu und legte etwas auf meinen Teller.

»Ich glaube, dass sie sehr viel durchgemacht hat«, sagte er. »Sie hat zweifellos schon einige Menschen zu Grunde gerichtet. Sie hat nicht die Schlechtesten auf dem Gewissen.«

»Gestern hatte ich plötzlich Angst«, sagte ich.

Draussen schien die Sonne. Man sah es nicht direkt, aber durch die Vorhänge fielen einzelne Strahlen und verbreiteten auf den steinernen Wänden einen Hauch sanfter, tieffarbiger Wärme. Eine Dame ging durch das Lokal, und ihr Gesicht wurde eine Sekunde lang von den kaum sichtbaren Sonnenstrahlen getroffen, es erglänzte, und die blonden Haare sahen ebensolange aus wie aufgelöstes Gold.

Ich hatte kalte Hände, obwohl das Restaurant stark geheizt war.

»Man hat mir immer gesagt, dass mir einmal etwas zustossen würde«, sagte ich. »Aber ich habe es nicht geglaubt. Meine Lehrer sagten, ich würde einmal unter die Räder kommen.«

»Ja, man stellt sich die Dinge immer anders vor, als sie sind.«

»Ich bin nicht eifersüchtig«, sagte ich. Ich hoffte sehr, Erik würde einsehen, dass wir natürliche Verbündete waren. Warum sollte ich eifersüchtig sein, wenn er Sibylle liebte, oder sogar wenn Sibylle ihn liebte. Schliesslich würden wir doch die gleiche Sprache reden. Ich fühlte mich ein wenig getröstet.

 

 

***

Lyrische Novelle, von Annemarie Schwarzenbach, Erstdruck: Berlin, Rowohlt 1933

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

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In 2022 widmet sich KUNO der Kunstform Novelle. Diese Gattung lebt von der Schilderung der Realität im Bruchstück.