Die Menschen in Ibsens Dramen

Vor 100 Jahren starb Henrik Ibsen. KUNO erinnert an den Dramatiker mit einem Essay von Hugo von Hofmannsthal

Man ist wohl nie in Versuchung gekommen, einen Vortrag zu überschreiben: von den Menschen in den Dramen Shakespeares, oder Otto Ludwigs, oder Goethes. Ebensowenig als »über die Menschen im wirklichen Leben«. Der Titel würde gar nichts sagen: es gibt ja dort nichts als Menschen, plastische, lebendige Menschen, die sich handelnd und leidend ausleben, und in diesem Ausleben liegt alles. Sonst wird nichts gewollt und nichts vorausgesetzt. Bei Ibsen hat sich die Diskussion, haben sich Begeisterung und Ablehnung fast immer an etwas außerhalb der Charakteristik Liegendes angeknüpft: an Ideen, Probleme, Ausblicke, Reflexionen, Stimmungen.

Trotzdem gibt es in diesen Theaterstücken auch Menschen, das heißt, wenn man genauer zusieht, einen Menschen, Varianten eines sehr reichen, sehr modernen und sehr scharf geschauten Menschentypus. Außerdem Hintergrundsfiguren, flüchtige Farbenflecke für den Kontrast, Explikationsfiguren, die den Haupttypus kritisieren und Details hinzufügen, und Parallelfiguren, in die einzelne Züge der Hauptfigur projiziert sind, die gewissermaßen eine grell beleuchtete Seelenseite des ganzen Menschen darstellen.

So weit die beiden Individualitäten auch voneinander abstehen, es ist ganz dieselbe Erscheinung wie bei Byron: hier wie dort diese eine durchgehende Figur mit dem Seelenleben des Dichters, mit den inneren Erlebnissen, die sich nie verleugnen, ein wenig stilisiert, ein wenig variiert, aber wesentlich eins. Dort hieß sie Manfred, Lara, Mazeppa, Tasso, Foscari, Childe Harold, der Giaur, der Corsar; sie hatte einen etwas theatralischen Mantel, verzerrte Züge, einen gewaltigen Willen und die Rhetorik heftiger und melancholischer Menschen, sie war eigentlich ein sehr geradliniges, einfaches Wesen. Hier heißt sie Julian der Apostat, Photograph Ekdal, Peer Gynt, Bildhauer Lyngstrand, Dr. Helmer, Dr. Brendel, Dr. Rank oder Frau Hedda, Frau Ellida, Frau Nora. Sie ist gar kein geradliniges Wesen; sie ist sehr kompliziert; sie spricht eine nervöse hastige Prosa, unpathetisch und nicht immer ganz deutlich; sie ironisiert sich selbst, sie reflektiert und kopiert sich selbst. Sie ist ein fortwährend wechselndes Produkt aus ihrer Stimmung und ihrer eigenen Kritik dieser Stimmung.

Alle diese Menschen leben ein schattenhaftes Leben; sie erleben fast keine Taten und Dinge, fast ausschließlich Gedanken, Stimmungen und Verstimmungen. Sie wollen wenig, sie tun fast nichts. Sie denken übers Denken, fühlen sich fühlen und treiben Autopsychologie. Sie sind sich selbst ein schönes Deklamationsthema, obwohl sie gewiß oft sehr wirklich unglücklich sind; denn das Reden und Reflektieren ist ihr eigentlicher Beruf: sie sind oft Schriftsteller: Kaiser Julian trägt das Kleid der Weisheitslehrer und schreibt kleine, anspruchsvolle und pedantische Broschüren; Hjalmar Ekdal und Ulrich Brendel werden wahrscheinlich nächstens ein epochemachendes Werk herausgeben, und Ejlert Lövborg hat sogar schon eines geschrieben; oder sie sind müßige, nervöse und schönsinnige Frauen, wie die Frau vom Meere und die andere, die in Schönheit gestorben ist. Sie ermangeln aller Naivetät, sie haben ihr Leben in der Hand und betasten es ängstlich und wollen ihm einen Stil geben und Sinn hineinlegen; sie möchten im Leben untersinken, sie möchten, daß irgend etwas komme und sie stark forttrage und vergessen mache auf sich selbst. Es ist in ihnen ganz die Sehnsucht des Niels Lyhne: »Das Leben ein Gedicht! Aber nicht so, daß man immer herumging und an sich selbst dichtete, statt es zu leben. Wie war das inhaltslos, leer, leer, leer: dieses Jagdmachen auf sich selbst, seine eigene Spur listig beobachtend … dieses Zum-Spaß-sich-Hineinwerfen in den Strom des Lebens und Gleich-wieder-Dasitzen und Sich-selbst-Auffischen in der einen oder der anderen kuriosen Vermummung! Wenn es nur über einen kommen wollte – Leben, Liebe, Leidenschaft –, so daß man nicht mehr dichten konnte, sondern daß es dichtete mit einem.« Dieses Rätselhafte, das kommen soll und einen forttragen und dem Leben einen großen Sinn geben und allen Dingen neue Farbe und allen Worten eine Seele, hat vielerlei Namen für diese Menschen.

Bald ist es das »Wunderbare«, wonach sich die Nora sehnt; für Julian und für Hedda ist es das Griechische, das große Bacchanal, mit adeliger Anmut und Weinlaub im Haar; oder es ist das Meer, das rätselhaft verlockt, oder es ist ein freies Leben in großartigen Formen, Amerika, Paris. Alles nur symbolische Namen für irgendein »Draußen« und »Anders«. Es ist nichts anderes als die suchende Sehnsucht des Stendhal nach dem »imprévu«; nach dem Unvorhergesehenen, nach dem, was nicht »ekel, schal und flach und unerträglich« in der Liebe, im Leben. Es ist nichts anderes als das verträumte Verlangen der Romantiker nach der mondbeglänzten Zauberwildnis, nach offenen Felsentoren und redenden Bildern, nach irgendeiner niegeahnten Märchenhaftigkeit des Lebens.

Sie leben in kleinen Verhältnissen, in unerträglichen, peinlichen, verstimmenden, gelbgrauen kleinen Verhältnissen, und sie sehnen sich alle fort. Wenn man ihnen verspricht, sie weit fortzubringen, rufen sie aus: »Nun werde ich doch endlich einmal wirklich leben.« Sie sehnen sich fort, wie man sich aus grauem, eintönigem, ewigem Regen nach Sonnenschein sehnt. »Mich dünkt«, sagt der oder jener, »wir leben hier nicht viel anders als die Fische im Teich. Den Fjord haben sie so dicht bei sich, und da streichen die großen wilden Fischzüge aus und ein. Aber davon bekommen die armen zahmen Hausfische nichts zu wissen; sie dürfen nie mit dabei sein.« Es muß doch eine neue Offenbarung kommen, sagen sie, oder eine Offenbarung von etwas Neuem.

Es ist in diesen Verhältnissen ungeheuer viel Klatsch und ungeheuer viel irritierende Kleinlichkeit und Monotonie. In »Kaiser und Galiläer« gibt es Hofintrigen und Gelehrtenintrigen, Bureauklatsch und Stadtklatsch. In der »Hedda Gabler« weiß um 10 Uhr morgens schon die ganze Stadt, daß Ejlert Lövborg in der Nacht schon wieder betrunken war. Im »Volksfeind« und in den »Stützen der Gesellschaft« ist der Klatsch sogar das Hauptmotiv: »Was wird der Buchdrucker sich denken, und was wird der Gerichtsrat sagen, und was wird der Rektor urteilen.« In solchen Verhältnissen verliert man mit sinnlosen Widerwärtigkeiten so viel Zeit, daß man leicht auf den Gedanken kommt, sein ganzes Leben versäumt zu haben. In »Peer Gynt« ist eine rührende Szene, wo den alten Mann sein ganzes ungelebtes Leben, die ungedachten Gedanken, die ungesprochenen Worte, die ungeweinten Tränen, die versäumten Werke vorwurfsvoll und traurig umschweben. Bevor sie anfingen unter solchen Verhältnissen zu leiden, haben fast alle diese Menschen eine verwirrende, halb traumhafte Kindheit durchlebt, wie in einem Märchenwald, aus der sie heraustreten mit einem unstillbaren Heimweh und einer isolierenden Besonderheit, wie Parzival in die Welt reitet im Narrenkleid und mit der Erfahrung eines kleinen Kindes. Diese Kindheit Parzivals im Wald Brezilian hat für meine Empfindung immer etwas sehr Symbolisches gehabt. Dieses Aufwachsen in einer dämmernden Einsamkeit unter traumhaften Fragen nach Gott und Welt, auf die eine kindlich-traumhafte Mutterantwort folgt, das ist eigentlich das typische Aufwachsen in der dämmernden, rätselhaft webenden Atmosphäre des Elternhauses, wo alle Dimensionen verschoben, alle Dinge stilisiert erscheinen; denn Kinderaugen geben den Dingen einen Stil, den wir dann vergebens wiederzufinden streben: sie stilisieren das Alltägliche zum Märchenhaften, zum Heroischen, so wie Angst, Fieber oder Genialität stilisieren. In solch einem Wald Brezilian, der ein Puppenheim ist, sind sie alle aufgewachsen: Nora und Hedda bei kranken und exzentrischen Vätern, Hjalmar bei hysterischen Frauen, den Tanten, Julian in der schlechten Luft eines byzantinischen Klosters, Peer Gynt bei der phantastischen halbverrückten Mutter, und so fort. Aus dieser Kindheit haftet ihnen immer etwas so eigentümlich Verträumtes an; sie denken scheinbar immer an etwas anderes als wovon sie reden; sie sind eben alle Dichter, oder eigentlich sensitive Dilettanten. Sie haben viel von Kaiser Nero und viel von Don Quijote; denn sie wollen auch Gedichte ins Leben übertragen, ob selbsterfundene oder anempfundene ist ja gleichgültig. Einige haben sich resigniert daran gewöhnt, nicht mehr an das Wunderbare zu glauben, das von außen kommen soll. Sie glauben an die unendlichen Möglichkeiten des Wunderbaren, die im Menschen selbst liegen: sie glauben an den schöpferischen, verklärenden, adelnden Schmerz. Das ist ein persönlicher Lieblingsglaube von Herrn Henrik Ibsen: er glaubt, daß das Wunderbare in den Menschen dann aufwacht, wenn sie etwas sehr Schweres erleben …

Sie haben auch das Spielen mit den wachen, den lebendigen Worten, das so sehr eine Dichtereigenschaft ist: gewisse Worte scheinen für sie einen ganz anderen Sinn zu haben als für die gewöhnlichen Menschen: sie sprechen sie mit einem eigenen Ton, halb Wohlgefallen, halb Grauen aus, wie heilige, bannkräftige Formeln. Sie haben untereinander Zitate und geflügelte Worte, auch wenn sie nicht zufällig eitle Sophisten sind wie Kaiser Julian, der sich immer selbst zitiert. Sie sind auch um ihre Abgänge sehr bekümmert: sie lieben das arrangierte Sterben; wenn sie nicht mit Zitaten aus Seneca umsinken, wie die Prinzen in einem jugendlichen Drama Shakespeares, so liegt wenigstens in der Situation eine leichte Pose. Mir fällt das traurige Wort eines jungen Mädchens aus der guten Gesellschaft ein, die ein paar Wochen vor ihrem Tod mit elegantem Lächeln sagte: »Après tout, le suicide calme, c’est la seule chose bien aristocratique qui nous reste.« Das könnte fast die Frau Hedda gesagt haben oder der Doktor Rank; auch die kleine Hedwig stirbt nicht naiv. Und Julian, nach einem Leben voll Enttäuschungen, kann nicht sterben, ohne an den Effekt zu denken: »Sieh dies schwarze Wasser«, sagt er zu seinem Freund, »glaubst du, wenn ich spurlos vom Erdboden verschwände und mein Leib nirgends gefunden würde und niemand wüßte, wo ich geblieben wäre – glaubst du nicht, daß sich die Sage verbreiten möchte, Hermes wäre zu mir gekommen und hätte mich fortgeführt, und ich wäre in die Gemeinschaft der Götter aufgenommen?«

Wie nahe stehen wir hier der Manier des Nero, jenes wirklichen und höchst lebendigen Nero, den Renan aus den Details des Petronius, des Sueton und der Apokalypse zusammengesetzt hat: ein mittelmäßiger Künstler, in dessen Kopf Bakchos und Sardanapal, Ninus und Priamus, Troja und Babylon, Homer und die fade Reimerei der Zeitgenossen irr durcheinanderschwankt, ein eitler Virtuos, der das Parterre zittern macht und davor zittert, ein schöngeistiger Dilettant, der durch eine Smaragdbrille den Leichnam seiner Mutter ästhetisch betrachtet, hier lobend, dort tadelnd, und dem in seiner eigenen Todesstunde nichts als literarische Reminiszenzen einfallen. Er erinnert sich, daß er Rollen gespielt hat, in denen er Vatermörder und zu Bettlern herabgekommene Fürsten darstellte, bemerkt, daß er das alles jetzt für seine Rechnung spiele, und deklamiert den Vers des Ödipus:

ϑανειν μ᾽ ανωγε ουγγαμος, μητηρ, πατηρ.

Weib und Mutter und Vater heißen mich sterben!

Dann redet er griechisch, macht Verse, bis man plötzlich das Geräusch herankommender Reiterei hört, die ihn lebendig fangen soll. Da ruft er aus:

»Dumpfes Geräusch von eilenden Rossen erschüttert das Ohr mir!«

und empfängt von einem Sklaven, der den Dolch herabsenkt, den Todesstoß »in Schönheit«.

Kein Wunder übrigens, daß zwischen jenem Julian und diesem Nero eine solche Verwandtschaft besteht; sie sind beide bis zu einem geringen Grade Selbstporträts ihrer Dichter, zweier geistreicher Weisheitslehrer des neunzehnten Jahrhunderts.

Die Erziehung des Nero in dem rhetorischen Seminar des affektierten Seneca, des Virtuosen der Anempfindung, hat mit der unserigen viel Verwandtschaft; und das hübsche Wort, das Seneca über seine Zeit gesagt hat, »Literarum intemperantia laboramus«, könnten alle diese literarischen Dilettantenmenschen der Ibsen-Dramen in ihre Tagebücher schreiben und so kommentieren: »Mein Leben hat mich nirgends fortgerissen und getragen; mir fehlte die Unmittelbarkeit des Erlebens, und es war so kleinlich, daß ich, um ihm Interesse zu geben, es immer mit geistreichen Deutungen, künstlichen Antithesen und Nuancen ausschmücken mußte.« Dieses Dekorieren des gemeinen Lebens, diese schöne und sinnreiche Lebensführung, die nur in ihrer Terminologie ein wenig an die der protestantischen Erbauungsbücher gemahnt, dieses starke, alles absorbierende Denken an das »eine Notwendige«, dieses harte und herbe Betonen der Pflichten gegen sich selbst bringt je nach den Figuren zweierlei endgültige Konzeptionen des Lebensproblems mit sich: einmal das symbolische Sich-Isolieren, das nervöse Bedürfnis, Abgründe ringsum sich zu schaffen, das Alleinbleiben des Volksfeindes, das Einsamwerden auf Rosmersholm, das Hinauslaufen der Nora in die Nacht; oder man bleibt im Leben und zwischen den Menschen stehen: aber als der heimliche Herr, und alle anderen sind Objekte, Akkumulatoren von Stimmungen, Möbel, Instrumente zur Beleuchtung, zur Erheiterung, zur Verstimmung oder zur Rührung. So behandelt Herr Helmer seine Frau und seinen Freund Rank. Die Frau ist ein Spielzeug, eine hübsche, graziöse Puppe, die er in Gesellschaft führt, dort läßt er sie Tarantella tanzen, sammelt die Lobsprüche ab und führt sie wieder fort, ob sie will oder nicht; und wie sein Freund sich versteckt, um still zu sterben, wie ein verwundetes Tier, sagt er: »Schade, er mit seinen Leiden und seiner Vereinsamung gab gleichsam einen schönen, bewölkten Hintergrund ab für unser sonnenhelles Glück.« Noch hübscher aber ist es in einem anderen Stück, wo eine Gruppe von drei Menschen sich wechselseitig so als Ding und Stimmungsobjekt behandelt; ich meine den kranken Bildhauer Lyngstrand und die beiden jungen Mädchen, die Stieftöchter der Frau vom Meere: der hoffnungslos kranke Mensch spricht von seiner bevorstehenden Reise nach Italien und nimmt der älteren von den zwei Mädchen das Versprechen ab, immer aus ihrer eintönigen, armen Existenz heraus an ihn zu denken. Wozu eigentlich? »Ja, sehen Sie«, sagt er, »so zu wissen, daß es irgendwo auf der Welt ein junges, zartes und schweigsames Weib gibt, das still umhergeht und von einem träumt …«

Er findet das ungeheuer »anregend«.

Dabei interessiert er sich aber eigentlich gar nicht für sie, sondern für die Jüngere, eine halberwachsene, sehr gescheite kleine Person.

»Wenn ich wiederkomme«, sagt er zu ihr, »werden Sie ungefähr im selben Alter sein wie Ihre Schwester jetzt. Vielleicht sehen Sie dann auch aus, wie Ihre Schwester jetzt aussieht. Vielleicht sind Sie dann gleichsam Sie selbst und sie sozusagen in einer Gestalt …«

Hilde spielt mit dem Gedanken, daß der Mensch, der ihr das alles sagt, nie mehr wiederkommen wird, weil sie weiß, daß er sterben muß. Ihr macht dieser Flirt vor der Tür des Todes ein eigentümliches Vergnügen. Sie fragt ihn, wie sie sich in Schwarz ausnehmen würde, ganz in Schwarz, mit einer schwarzen Halskrause und schwarzen, matten Handschuhen …

»So als junge, schöne trauernde Witwe, nicht?« »Ja«, meint sie, »oder eine junge trauernde Braut.«

Sie findet wieder den Gedanken ungeheuer anregend.

Diese resignierten Egoisten, wie Hjalmar, Helmer und Hilde, und die Pathetisch-Isolierten, wie Stockmann oder Nora, sind für meine Empfindung nur Stadien ein und desselben inneren Erlebnisses, und diese verschiedenen Menschen sind nichts als der eine Ibsensche Mensch in verschiedenen Epochen der Entwicklung. Alle Ibsenschen Menschen repräsentieren nichts anderes als eine Leiter von Seelenzuständen, die zum Beispiel der eine Julian schon alle im Keime hat und durchlebt. In jedem Stücke wird eine Idee, das heißt, eine Seite des großen Grundproblems, besonders betont und in französischer Manier mit viel Räsonnement durchgeführt.

Und das Grundproblem ist, glaube ich, immer das eine, wesentlich undramatische: Wie verhält sich der Ibsensche Mensch, der künstlerische Egoist, der sensitive Dilettant mit überreichem Selbstbeobachtungsvermögen, mit wenig Willen und einem großen Heimweh nach Schönheit und Naivität, wie verhält sich dieser Mensch im Leben? Wie, wenn man ihn binden und zwingen will und er ist schwach und hilflos gestimmt? – Nora.

Oder wenn man ihn zwingen will und er ist stark und hochmütig gestimmt? – Stockmann.

Oder man läßt ihm Freiheit und die Qual des Wählens? – Frau vom Meere.

Oder er ist arm und hätte gemeinmenschliche Pflichten? – Hjalmar.

Oder er hat alle Macht der Welt? – Julian.

Oder er ist unrettbar krank? – Oswald Alving. Oder er ist überspannt erzogen worden? – Hedda.

Ich glaube, die Antwort ist einfach: eigentlich hat er zwischen den Menschen keinen rechten Platz und kann mit dem Leben nichts anfangen. Darum geht er manchmal sterben, wie Julian, Rosmer, Hedda. Oder er »stellt sich allein«, was fast dasselbe ist: Nora, Stockmann. Oder er lebt weiter, einsam zwischen den Menschen, in selbstsüchtigen Kombinationen ihr heimlicher Herr: Hjalmar, Helmer, Hilde … in hochmütiger Resignation und enttäuschter Kühle, ein zerbrechliches, künstliches Dasein. –

Inzwischen ist der »Baumeister Solneß« erschienen. Das ist eine wunderliche Mischung von Allegorie und Darstellung realen Lebens. Wie wenn Bauernkinder bei Nacht in ausgehöhlte Kürbisköpfe Lichter stecken, die durch das gelbrote dünne Fleisch scheinen, so scheint hier die allegorische Bedeutung durch hohle, menschenähnliche Puppen. Man hat das ganze Stück geistreich und gewiß nicht unrichtig als eine symbolische Darstellung von Ibsens innerer Entwicklung, von seinem Künstlerverhältnis zu Gott, zu den anderen und zu sich selbst aufgefaßt. Der Künstlermensch, der große Baumeister, steht in der Mitte zwischen den beiden Königen aus den »Kronprätendenten«. Denn die Könige bei Ibsen sind auch Baumeister und die Baumeister Könige; oder alle beide Dichter, königliche Baumeister der Seelen. Baumeister Solneß steht also zwischen dem König Hakon und dem König Skule. Er hat das dämonische Glück wie der eine, und wird von Zweifeln zernagt wie der andere. Er hat das Ingenium, den eingeborenen Beruf, das Baumeistertum von Gottes Gnaden, das Recht und die Pflicht, sich durchzusetzen, wie der geborene König Hakon, »der mit dem Königsgedanken«; und er hat die Kleinheit und die Angst und die Gewissensqual und die Sehnsucht nach Kraft und Leichtigkeit des Lebens, wie der König Skule, der kein Recht hat, König zu sein. Wie diese Könige und Baumeister, so sieht der Künstlermensch aus, von innen gesehen; und die Karikatur davon ist Hjalmar und Julian. Neben dem schaffenden Künstler steht das fordernde Leben, das spöttische, verwirrende. So steht neben dem zweifelnden Baumeister die Prinzessin Hilde. Es ist die erwachsene kleine Hilde, die Stieftochter der Frau vom Meere. Der Baumeister hat ihr einmal ein Königreich versprochen, und das kommt sie jetzt fordern. Wenn er ein geborener König ist, muß ihm das ja ganz leicht sein. Wenn nicht, so geht er einfach daran zugrunde. Und das wäre ja ungeheuer anregend. Ihr Königreich liegt, wie das der Nora und der Hedda, im Wunderbaren. Dort, wo einem, schwindlig wird. Dort, wo eine fremde Macht einen packt und fortträgt. Auch er hat in der Seele diesen Zug nach dem Stehen auf hohen Türmen, wo es im Wind und in der dämmernden Einsamkeit unheimlich schön ist, wo man mit Gott redet und von wo man herabstürzen und tot sein kann. Aber er ist nicht schwindelfrei: er hat Angst vor sich selbst, Angst vor dem Glück, Angst vor dem Leben, dem ganzen rätselhaften Leben. Auch zu Hilde zieht ihn Angst, ein eigenes, verlockendes Grauen, das Grauen des Künstlers vor der Natur, vor dem Erbarmungslosen, Dämonischen, Sphinxhaften, das sich in der Frau verkörpert, mystisches Grauen vor der Jugend. Denn die Jugend hat etwas Unheimliches, einen berauschen den und gefährlichen Hauch des Lebens in sich, der rätselhaft und ängstigend ist. Alles Problematische, alles zurückgedämmte Mystische in ihm erwacht unter ihrer Berührung. In Hilde begegnet er sich selbst: er verlangt das Wunderbare von sich, aus sich heraus will er es erzwingen und dabei zusehen und den Schauer fühlen, »wenn das Leben über einen kommt und mit einem dichtet«. Da fällt er sich tot.

Ich glaube nicht, daß diese halb geistreiche, halb leichtfertige Art, die Dramen Ibsens zu zerpflücken und durcheinanderzuschütteln, ihnen wirklich schaden kann. Man kann ja nicht zwischen ihnen herumgehen wie zwischen wirklichen Menschen in lebendiger Luft, wie in der Shakespearewelt vom Markt durch den Schloßhof in des Königs Betstube, und von da durch das lärmende Bankett die Treppen hinab und an der Wachstube vorbei, an der Schenke, an des Friedensrichters Haus, am Kreuzweg, am Friedhof … aber man geht durch die reiche und schweigende Seele eines wunderbaren Menschen, mit Mondlicht, phantastischen Schatten und wanderndem Wind und schwarzen Seen, stillen Spiegeln, in denen man sich selbst erkennt, gigantisch vergrößert und unheimlich schön verwandelt.

 

 

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

Weiterführend →

Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.

 Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.