Das Vortreffliche ist unergründlich,
man mag damit anfangen, was man will.
Goethe
Dieses Buch ist völlig Geist; es ist ein Vorwalten darin dessen, was Goethe das »obere Leitende« genannt hat, und so ist etwas entgegen, daß es nicht ins Breite beliebt und verstanden sein könne. Freilich sind Worte daraus in jedermanns Munde und Stücke daraus durch die Musik in jedermanns Ohr, aber als Ganzes ist es, man kann sagen, wenig bekannt und in der Herrlichkeit seiner Zusammenfügung nicht von sehr vielen, dem Verhältnis nach, begriffen worden. Und doch ist es eine Bibel: eines von den Büchern, die unergründlich sind, weil sie wahre Wesen sind, und worin jegliches auf jegliches deutet, so daß des innern Lebens kein Ende ist. An diesem teilzunehmen aber bedarf es eines erhöhten inneren Zustandes, und nichts ist in unserer Zeit seltener geworden als auch nur die Forderung an uns selbst, diesen uns herzustellen.
Das Reine, Starke ist schwer zu fassen, eben um seiner Reinheit, um seiner Stärke willen. Das Bizarre fesselt den Blick, das schwächlich Gefühlvolle zieht uns hinüber, das Übertriebene drängt sich auf, das Leere noch und das Gräßliche haben ihre Anziehung: das Reine, Starke auch nur gewahr zu werden, bedarf es der Aufmerksamkeit. So auch unter den Menschen: ist nicht, um der Menschen Bestes und Reinstes in sich zu nehmen, ein erhöhter Zustand nötig, den wir Liebe nennen? Diese Worte führen die Dichter und die Halbdichter unablässig im Munde, ihre Geschöpfe sind mit ihm behaftet, aber sieht man näher zu, wieviel ist daran verworrene Begierde, ein düsteres selbstsüchtiges Trachten, ja ein Mißverständnis; wie selten ist der reine Blick, das bereite Herz, der aufmerksame Sinn? Wer ein Buch wie dieses, einen Geist, ein Wesen, genießen will, der sei auch da und mit der Seele da. Es haben sich an ihm viele versucht, und es nicht genossen; die innere Trägheit war entgegen, Verworrenheit, Unaufmerksamkeit, der Zwiespalt des eigenen Wesens. Gespaltenes will das Ganze nicht erkennen, ein Gegenwille tritt dann im dunkelsten kaum bewußten Bereich dämonisch auf, ein Urteil wird nicht reif, das Vorurteil wirft sich dazwischen. Ein solches Vorurteil haftet an diesem Buch, es ist platt und töricht, aber seit vielen Jahrzehnten beharrend; allmählich wird es weichen, denn das Vortreffliche hat Zeit, es bleibt in sich stets lebendig, und sein Augenblick ist immer. Das Vorurteil geht dahin, es habe sich Goethe, als ein im Herzen kühler alternder Mann, grillenhaft dem Fremden zu-, dem Nahen und Eigenen abgewandt und habe das orientalische Gewand wie eine Vermummung übergeschlagen, so sei dies Buch entstanden, woran alles fremd und seltsam, bis auf den Titel.
Diesem mit Streitgründen entgegenzutreten, ist schwer, denn um einen solchen Kampf auszufechten, müßte man sich auf eine andere Ebene begeben – eben wie für Goethes Vaterlandsliebe –, und jeder bleibt gern, wo er ist, mit denen, die ihm nahe sind, und denen, die er ehrt. Wer aber Gedichtetes zu lesen und durch den Buchstaben den Geist zu empfangen begnadet ist, der wird in diesem
»West-östlichen Divan« nichts von Vermummung gewahr werden, sondern nur von Enthüllung ohne jede Schranke. Doch ist es ein anderes, ob ein Jünglich leidenschaftlich sein Herz entblößt, oder ob ein reifer Mann, lebend und liebend, sich völlig denen dahingibt, die ihn zu fassen vermögen. Des Jünglings Herz ergießt sich wie ein schäumender Bergstrom gegen die Welt, das ist ein Schauspiel, das jeder fassen kann; der Mann ist der Welt inniger, als sich sagen läßt, verbunden, und nicht anders vermag er sein Inneres preiszugeben, als indem er gleichsam vor unsern Augen, aufleuchtend in der Glut seines Herzens, aus den Dingen hervortritt und sogleich sich wieder in die Dinge hinüberwandelt. Ein höchster durchgebildeter Bezug zu den Menschen, ein weitumgreifender Blick über alle Weltgegenstände sind männlich: scharf zu trennen, innig zu verbinden ist dem Mann gegeben. Dem Jünglinge gehts um alles und um nichts; daß er zu geben und zu nehmen wisse, und wie zu geben, wie zu nehmen, ist des Mannes Sache. Der Jüngling stürmt dahin, oder er liebt und starrt und stockt; sich lebend und liebend im Weitergehen zu behaupten, wird vom Mann verlangt. Dem Jüngling steht es gut an, daß er neun Zehnteile der Welt nicht gewahr wird: der Mann muß allem seinen Mann stehen, und noch die Vergangenheit fordert ihn hinaus: das unabsehbare Gegenwärtige aber wirft sich auf ihn wie ein verworrener Traum, der reingeträumt werden muß, ein wüster Schall, der zum Ton sich runden muß. So ist die Beschwerde groß, ein Mann zu sein: dafür nimmt er den größten Lohn dahin: der höchsten allseitigen Bewußtheit. Der Jüngling trägt sein Herz in Händen, aber sein Sinn ist dumpf; dem Greis geht alles dahin wie in einem Spiegel; der Mann allein ist wahrhaft im Spiel, und wie er ganz im Spiel ist, so ist er sichs ganz bewußt. Dieses ruhmreiche Geschick des Mannes tritt in den zwölf Büchern von Blatt zu Blatt hervor. Im »Buch des Sängers«, »Buch Hafis« ist es Selbstbehauptung, männlich, kühn, großmütig, rauh und mild; im »Buch des Unmuts« Abwehr, Zurechtweisung, mutig, stark, ja derb; im »Buch der Liebe«, »Buch Suleika« Hingabe, herrlich, schrankenlos, bis ans Mystische, Unfaßliche reichend; im »Schenkenbuch« Vertrauen unnennbarer Art zwischen Älterem und Jüngerem; im »Buch des Paradieses« höchstes Anschauen eigenen Wertes, Verklärung erfüllten Geschickes; in den Büchern der »Sprüche«, der »Betrachtungen«, der »Parabeln« letztlich zarteste Weltklugheit, Adlerauge und gelassene Hand, wie des Teppichknüpfers, vor dem Ungeheuren, Verworrenen.
Dies alles ist einer fremden Welt angenähert oder zwischen ihr und uns in der Schwebe: alles ist doppeltblickend, und eben dadurch dringt es uns in die Seele; denn das Eigentliche in uns und um uns ist stets unsagbar, und doch ist dem Dichter alles zu sagen gewährt.
Soll ich nun, unter so vielen herrlichen, die Gedichte nennen, auf denen vor allem die Seele ausruht, immer wieder zu ihnen zurückkehrt, und durch welche sie, wie durch Tore, irgendwo hinzudringen meint, wo ihre eigentliche Heimat ist, so sind es vielleicht diese zehn: im »Buch des Sängers« das erste gleich »Hegire«, worin die Wunderwelt nicht sowohl des Orients als einer großen weltliebenden Seele sich aufschlägt; dann jene »Talismane«, wahrhaft ewigen Gehalts, »Im Gegenwärtigen Vergangnes«, dies unvergleichliche Lebensgedicht, worin, aus einer deutschen Landschaft heraus, das Weiseste leicht und lieblich gesagt ist; endlich ›Selige Sehnsucht‹. Im »Buch Hafis« von denen, die ›An Hafis‹ überschrieben sind, das zweite, das anfängt: ›Was alle wollen, weißt du schon, Und hast es wohl verstanden‹, worin in Strophen unnennbarer Magie die Liebe mit der Welt, Weisheitsausspendung mit glühend reiner Lust verflochten sind, wahrhaft vier Elemente in eins gemischt; im »Buch des Unmuts« das erste: ›Wo hast du das genommen? Wie konnt es zu dir kommen?‹ Im »Buch Suleika« jenes ›Wiederfinden‹, das in der Dichtung das gleiche ist, was eines von Beethovens reinsten Geschöpfen in der Musik; im »Buch des Schenken« die ›Sommernacht‹, im »Buch des Paradieses« ›Berechtigte Männer‹, im »Buch des Parsen« ›Vermächtnis altpersischen Glaubens‹. Hat man aber eines dieser Gedichte betreten, so ist eine magische Grenze überschritten; man wähnt sich am Rande und ist doch schon im Kreise, ist schon in der Mitte. Ja, nicht nur diese auserwählten Gedichte, ein jedes auch von den kleineren, oft nur vier Zeilen aneinandergereiht, wird das gleiche bewirken, wo nur der Sinn gesammelt und hingegeben auf ihnen ruht. Denn ein solches Buch ist Leben, und erhöhtes Leben. Goethes Jünglingsgedichte fliegen uns durch die Seele wie Musik, in »Hermann und Dorothea«, im »Meister« ist das Dasein wie in festen, von innen erhellten Bildern vor uns hingehalten, so ist auch der »Faust« eine Bilderfolge, freilich eine magische; hier aber, im »West-östlichen Divan«, sind wir, wie nirgends, mitten in den Bereich des Lebenden gestellt. Der Jüngling begehrt zu leben, der Greis erinnert sich, gelebt zu haben, und jedem dieser Alter ist wieder eine Gewalt verliehen, die einzig ist. Aber der Mann allein ist wahrhaft der Lebende. Er steht wahrhaft in der Mitte des Lebenskreises, und der Kreis hält ihm die Welt gebannt. Nichts flieht vor ihm, wie er vor nichts fliehen kann. In der kleinsten Handlung ist auf das Größte Bezug, das überwunden Gewähnte tritt unversehens wieder hervor, das Vergeudete wie das Vergewaltigte wird gewaltig und meldet sich an, eigener Falschheit entrinnt man nie wieder, jedes Vergangene wirft den dünnen Schleier von sich und zeigt sich als ein ewig Gegenwärtiges. Jegliches führt jegliches herbei, denn in jedem Sinn ist alles in den Kreis geschlossen, dem Gemüte müßte es fast schwindeln, wie es gewahr wird, daß des Schicksals wie der Menschen Gunst erworben und verscherzt wird auf demselben Wege, daß das Leben ein unaufhörliches Wiederanfangen ist und ein unaufhörliches Wiederzurückkommen. So geht es uns in diesem Buch, wie es uns draußen im eigenen Bereich ergeht: wir meinen uns frei im Unendlichen zu bewegen, doch sind wir immer in die Mitte unseres Lebenskreises gebannt, und der Ring des Horizontes ist mehr als ein bloßer Augentrug. Aber dem dies widerfährt, dem wachsen die Kräfte, und es ist, als ob wiederum der Kreis ihn stärke. In seinem Herzen erneuert sich unablässig das Göttliche: wie dies geschehen, dies ist recht eigentlich, wenn man auf ein Unaussprechliches mit einem Wort hindeuten darf, der Inhalt dieses Buches. Das Buch ist in manchem Augenblick in mancher Hand, und wir sind nicht in jedem Augenblick fähig, Hohes zu fassen; aber es liegt in uns, daß wir dies, und noch mehr, fassen können.
Weiterführend →
Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.
→ Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.
→ Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung