Die Verderblichkeit der Immunstoffe

Wohin, wohin so schnell?

Wohin mit der Gitarre, jetzt, Nachtfahrzeit, in einem Bus durch…Berlin?

Als er den Fahrschein zu fassen kriegt, kann man die Zahlen darauf nicht mehr erkennen, so nasse Hände hat er. Wie machen Sie das denn beim Spielen, beim Vorspielen meine ich? Oder, wenn Sie einen frisch gestrichenen Zaun versetzen müssen? Brauchen Sie überhaupt Wasser zum Waschen? Ganze Wasserfälle? Nur bei Ebbe, hier in Berlin? Komm, komm, Bürschchen, hierher, nicht da, nicht auf diesen Sitz, hier, h i e r! –  verstanden? Wer sagt hier hallo, obwohl wir uns kaum kennen? Gleich wird gedreht, und mit jeder Drehung wächst das All um Milliarden Ausdehnungen.

Wo ist der Chef?

Der Chef trägt die billigsten Schuhe. Er hat nichts gelernt, darum verdient er seine Schüchternheit heute gar nicht. Plötzlich hören die Stimmen auf, die Häuser, die in Kunstleder versteckten Gitarren. Hier sind die Rohrleitungen zu Ende, da wird einem das Händchen plötzlich trocken und die Bosheit verschlägt’s einem. Hier könnte man Fliegenpilz- und Haschischfelder anlegen. Hier lassen sich Millionen Gitarren von talentierten Gitarrenspielern verbrennen. Wohin, wohin so schnell, du schöne, du fremdartige Existenz? Du Barkopf – du Bullerbaß- du Bärbeißexistenz? Joe Cocker dürfte an die 70 sein, der hat auch sein Berlin für immer gefunden. Sieh dieses Paar, das sich nicht ausstehen kann, aber das sich in den Kurven heftig grenzwertig berührt. Und dem Chef da vorn geht das Bauchgefühl ab, er geht nicht mit den Kurven, er verspannt sich inwendig nur ganz hart. Der Fahrer ist mehr noch ein Grifftechniker als ein Steuer- Rad-und Kreiseldreher. Wir sind hier im elektrischen Dämmer zusammengewürfelt, um zu lernen. Nicht jawoll, nee, Banane heißt das. Banane für alles, was nicht ganz stilecht ist. Was einen ungesunden Anschein hat. Banane, wenn im Kopf eine kleine gelbe Blase platzt, meistens beim Jasagen. Gelb, mit braunen Streifen, etwas gekrümmt, schälst du das Innere heraus, – so kommt eine Gitarre ans Licht. Eine rein verderbliche, eine zusammengeschusterte, eine Sondergitarre.

Wohin, wohin so schnell? Die Knochen kannst du beeinflussen, das Mark nur zu sanitären Höchstpreisen. Jedenfalls ist alles erlernbar, jedenfalls ist alles hier verlernbar, jedenfalls ist diese Stunde verderblich wie Banane, jedenfalls lässt sich auch das Schwitzen durch Lernen eindämmen. Am besten mietet man einen Kessel, in dem das Wasser bis kurz vor dem Siedepunkt steht. Zeit, noch einmal angeeignet und kultiviert durch Farbe und Rhythmen. Wie das Gitarrenspiel, etwas, was man noch einmal lernen kann, in das man sich einübt, worin man firm wird in aller Beweglichkeit, in aller Endlichkeit. Das Beherrschen der Saiten durch Grifftechnik, das Beherrschen der Saiten beim Anschlagen. Das Hervorlocken der Töne, das Zivilisieren der Klänge, das Stummspielen. Noch einmal. Das Hervorlocken der Möglichkeiten, das Beherrschen der Taktik. Zeit, noch einmal angeeignet. Das Herumflanieren in visionären Sicherheiten seit Jahrhunderten in den großen Städten gegen Mitternacht. Das Überspringen von Zäunen, das Überspringen von Möglichkeiten, das Überspringen von Vereinbarungen, Ignoranz gegen Eintrübungen durch Bauchgefühle, Sinn aller Übungen: fürs Feingefühl. Zeit, noch einmal. Behaupten, dass sie sich nach den Zeigern richte. Dass die Spielorte Meterware sind, die Möglichkeiten Sonderangebote, die Sicherheiten Erlaubnisscheine, die man gegen Beifall eintauschen kann, weil man Saiten zupfen kann.

Die Verderblichkeit der vor Aufregung schweißtriefenden Hände. In den immer gegeneinander gepressten Zwischenräumen vermehren sich die Pilze. Die Verderblichkeit der Pilze. Schäumendes Gift, das unbemerkt von uneigentlicher Materie aufgesogen wird, fremde Häute, künstliche Stoffe. Kulturen von beherrschbaren Wucherungen, die ins Fleisch einwachsen, die durch das Fleisch wachsen, durch die Organe, die Blutbahnen, die Unter-und Überführungen, die Knochen, die Straßen und die Boulevards. Und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen. Vorschein einer schönen, fremdartigen Existenz, die ein unabhängiges Leben führt. Du hast vergessen, wie so etwas entstehen kann. Wie das mit dem Lernen zusammengeht, dessen Bedingungen sich rasend verändern. Was sich da vorschiebt und was da weichen muss. Was einübbar ist und was so ganz von ungefähr daherkommt. Ob Knistern in den Gelenken oder ein

Knacken im Kopf das erste Signal sei. Wie viele Notlügen eine authentische  Lüge ergeben, damit man noch rechzeitig davonkommt. Und wie weit man tatsächlich gekommen ist, wenn man angekommen ist. Schüchternheit ist aller Frechheit Anfang, aller Dreistigkeit Beginn, allen Mutes Beherztheit in der späten Frühe. Nimm dich zurück und lerne ganz im Stillen, Gitarren- oder Pilzkunde. Weißt du überhaupt, wie weit der Blutdruck auf Eindruck und Ausdruck Einfluss nimmt? Irgendwo dazwischen keimt die Fingerfertigkeit, reimt der Kopf auf Herrlichkeit Beschwerlichkeit. Er ist ganz eins mit dir und deinem Uneins, den Hindernisvehikeln Haut und Haar.

Nur so eine Idee: Auf Trommeln schlagen kannst du schon. Atemhaut an Atemhaut, Haut, die Haut bewegt, ohne sie zu entsetzen. Spiel auf des pirschenden Tieres Oberfläche. Licht markiert die verborgenen Orte des Dukörpers. Wie die beiden im Bus so Schulter an Schulter saßen, signalisierten sie, wir mögen uns nicht. Oder nicht mehr. Einer beklopfte unaufhörlich des Anderen Gliedmaßen, oh vergeblicher Anklopfer, der andere saß aufrecht bis zum Zerreißen gespannt. Nach kurzer Erstarrung zupften beide einander an der enganliegenden Kleidung herum. Die freigelassenen Häute der Arme, die gesträubten Felder der hellen Härchen, die rosig verfärbten Impfnarben im Flatterlicht des schwankenden Gefährts zwischen unterschiedlich hell modellierten Häuserfronten. In den Raumtiefen ballten sich Mikrokosmen. Die Verderblichkeit der Immunstoffe, der Bauchgefühle, der Schweißpilze. Mehr aber noch und offenbarer die Haltbarkeit von Lügen, Busfahrscheinen und Antipathien, wenn man sie aufhebt, statt zu bewahren. Bläulich sind die vom Blutfluss pochenden Adern, kleine Schlangen unter transparenten Hautpassagen; ein pelziges Dschungeltier verdauend.

In Gelb und Ocker zeigen sich die meisten schnell wachsenden Pilze. Braun ist die Gitarre und braun die Trommel. Gelb ist der Aufkleber am Busfenster: Komm rüber mit Rücksicht und weiter mit Verstand. Grün ist der Wannsee und noch grüner das Ziergebüsch am säumigen Ufer. An jeder Haltestelle die Nachtfahrzeiten im Graulicht. Zeit, noch einmal. Behaupten, dass sie sich nach Verweigerung richte, einer Verweigerung unkörperlicher Art, mehr eine Ignoranz gegen große Schritte bei offenen Augen, gegen das Tippeln von Fingern gegen die Geleise der Taktik, eine Abspenstigkeit von Spannung, die das nähere Hinsehen verursacht. Hören die Mauern auf, beginnen die Zäune.

Plötzlich hört die Bemalung auf. Plötzlich hören die Stimmen auf, die Mehrstockhäuser, die Schulter- an Schulter-Berührungen. Die Äderchen verzweigen sich unsichtbar außerhalb der Körper weiter, Gift kocht man ab hier in unterirdischen Verliesen, wo noch die besten Pilze gedeihen und wo man sich noch unerhört mit Trommelzeichen verständigt. Trommeln! Trommeln! Trommeln! Jeder, der jetzt aussteigt, wird kompakt und griffig gemacht und mit seiner alten Haut überzogen. Wo sind die Fahrscheine, rufen die Kontrolleure und alle sind Kontrolleure! Wir haben nur Eintrittskarten, geben die Fans und Stars zu, und alle sind Fans und Stars.. Wo sind unsere Lehrer, monieren die Schüler und schreien sofort hier!, denn sie alle sind die Lehrer selbst, bei denen sich das Lernspiel bald auszahlt. Hätte ich auf dieser rasenden Fahrt einen Wunsch frei, ich wollte ein Spiegel sein, der nicht nur illusionistisch, sondern wirklich!-: verdoppelt, und ich wäre die Verdoppelung von Gitarrenspieler, vom Fahrer, vom Chef und von dem Paar, das sich verteufelt im Stillen. Ein Zugestiegener, entstiegen behäbigen Feuilletons und Portalen, wünscht sich die Banane als Metapher exemplarisch. Er wollte protokollieren – ich verweigerte ihm meinen Kugelschreiber ohne Angabe von Gründen. Heute braucht er ihn nicht mehr, als Löschtastendiener. Der Busfahrer, Grifftechniker, flüstert zärtlich vor jeder Haltestelle BERLIN ins kleine elastische Mikro.

Du trägst eine winzige rosa Perle im Ohr. Mit Aura des Vorgesetzten, als Chef von Kunst! Das Paar kichert: Manche Typen tragen ihre Ohrringe wie fette Femis ihre Miniröcke. Haha. Die Knochen klappern. Die Blasen platzen. Die Immunstoffe zersetzen sich. Ein Zufallsspiel seine Gestalt, angefangen bei den wie von ungefähr gegen den Scheitel aufbegehrenden Locken, doch er ist nicht der Typ für Naturkrause. Eigentlich eine Fetthaut, im Licht entgegen kommender letzter Nachtschwärmer- und Wärmer der elektrischen Luft. In seinem Gesicht bricht sich etwas Strähniges, wie man es von Alkoholikern kennt. Bald aber ist er unablässig dabei, sich zusammenzufassen, so, als wisse er gar nicht, wo sich etwas in ihm bewegt. Er kennt die Umwege genau, wie man zu der Körperstelle kommt, wo` s schmerzt und juckt, und er bewältigt die Strecke mit vielen sensiblen Gesten bis hin zu dem Punkt. Oh ja, du, ich würde dir die Stelle sofort zeigen, wenn ich deiner sicher wäre! Ich würde dir einen Bart andichten, anhimmeln, ankümmern! Und der Kunstkatalog vor der Brust ist dein Schild, dein Glückchen, sofern man den Titel Abfall und Abkunft noch gut lesen kann. Inwendig das übliche Personal mit großen Stilen und touristisch geduldiger Anhängerschaft vor den grell beworbenen Kassen der Museen, im flirrendem Bakterienmilieu.

Die Diphterie ist bei uns ausgestorben. Ach hör mir auf mit der schwarzen Melancholie, die ist für mich ge-stor-ben! Der Kunstchef gibt sich so unbehelligend während der Kurven, so ganz in sich eine fast transparente Erscheinung!

Wohin, wohin so schnell? Manchmal möchte ich von herbeizitierbaren Seelen bewohnt werden, oh, die Gitarren, die Fahrscheine, das Knochenmark! Wie, wenn Schulter an Schulter…, ohne es zu wissen. War Picasso je in Berlin? Und er jetzt: schlagend auf Trommeln von Vorreitern? In Himmeln von Vorbetern? In den Lauben? In den Gasöfen, die eine Erinnerung des Gewissens immer neu vergeblich verpflichten? Ich suchte das Bergen, ich war im Ungeborgenen zu Hause. Zu jener Zeit kannte ich nur das Pi Pa Po, das Tuc Tuc, das KOMBINAT und das  „schwarz auf weiß„, dort habe ich die originale Mickeymouse gesehen. Wir nehmen Kurve um Kurve rasend vor Freude am Unterwegssein in der zunehmend unerhellbaren Düsternis. Die Zugestiegenen bleiben Statisten und lassen ihre häuslichen Ausdünstungen im bewegten Raum zurück. Aber  w i r  bleiben sitzen, wir: die Gitarre, die schwitzt, der grifffertige Fahrer, das vor Verachtung wunde Paar, der juckreizende Chef der Kunst, protokollanter Schreiber, der es mittellos mit den Augen treibt, und ich. Immer flüchtig vorüber; vor einer ungefegten Tür wachsen giftige Pilze, entlang unserer Wahrnehmungen und Prüfungen führt das aufgeregt pulsierende Blut freizügig über alte Spuren, auf Transparenten vor erloschenen Balkonen wollüstelt der Heimatbegriff, immer brennt uns hier ein Schamane fremden Vertrauens unter den Nägeln. Trauer, fest vernäht mit Erinnerung an die Gesänge über den bewachten Beton hinweg in eine kalte, stille Nacht in einer toten Regenstraße, die Bilder fürs Nacherzählen sind frisch verlebt. Vergiss das alles oder weißt du das alles, nimmst du das alles an oder nimmst du das alles nicht, nein, nie mehr an?- und ich führe es heran, an meine Brust, an mein Herz en detail und en passant, an die Kandare, wenn ich selbst zubeißen darf:  Jetzt noch lernen? Ich war ja ein Kind noch, als ich Fotos sah, Fotos aus einem Film, ein Film über Joe Cocker, mit dem Film in jeder Faser meines Leibes bin ich durch Berlin gefahren. Ich hatte Benns Reseden im Kopf, ich hatte Gombrowicz DIE VERFÜHRUNG noch nicht ganz zu Ende gelesen, ich hatte ein einstiges Krankenhaus als heute berühmtes Künstlerhaus bewohnt, in dem die Künstler in Hausschuhen über die Flure schlichen und ängstlich in Haustelefone geflüstert hatten. „Wir sind Banane“, oho, da hörte ich eine vernachlässigte Literatur von ferne läuten, das erinnerte mich an Glockenläuten aus isolierten Westtagen: jedenfalls ein Versuch des Horchens, ein Fest fürs Wiedererkennen. Und sieh, all die Mauerkreatoren, ein wandelndes Geläute entlang des Schutzwalls, hochdotiertes Kulturpersonal, mitleidlose Kassierer für Angstschritte- und Blicke, die sie  selbst nicht im Traum riskieren würden! Ein paar Stunden war es her, dass ich im Bahnhof Zoo mit einem Literaturprofessor ein widerständiges Frühstück aß, der mich in einem Nebensatz nach einer Einzelheit der letzten PENsitzung befragt hatte, ohne an meiner Antwort zu bemerken, dass ich längst Anschluss gefunden hatte an eine Fahrt, die zur Zeit meiner Geburt begonnen hatte, die ich immer noch aufzuholen im Begriff bin; nicht weit genug hergeholt und Banane. Ein Chef als Trommelkörper ist schon da, die Gitarre ist griffbereit für wurstige Fingerchen an verinnerlichten Händchen, der Bus samt Schofför ist da, Höhlenbeleuchter, Windmacher, Grifftechniker in flauer Stunde, das widerfähige Paar ist da, das den Witz kitzelt, der brave Kritiker ist auch zu Stelle: er diktiert seinem Mütchen den Einsatz der Lust an der Untergangschose. Und ich, ich bin hier, die sagt: Untergang Banane, Trommeln Banane, Nassfingerchen Banane, Fluxusbus beim Kultministerium für die Sicherheit West vor Ost schon bewilligt, krittisch, Herr Protocollör, ist kitschig, und ich: versündige mich zu jeder Sekunde, bis zur Endhaltestelle, an den Vorurteilen, die so sensibel machen.

Ich bleib sitzen, dann wird gedreht.

 

 

 

Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd