Die Zeiten, da es üblich gewesen ist, Untersuchungen »Zur Soziologie …« – der und der Gruppe, dieser und jener Erscheinung – zu überschreiben, werden noch in vieler Erinnerung sein. Damals hätte diese Schrift »Zur Soziologie des Angestellten« geheißen. Vielmehr, sie wäre gar nicht geschrieben worden. Denn was die Mode dieser Titel aussprach, war eigentlich nur, wie sehr man davor zurückschreckte, politische Gegenstände politisch klarzustellen, um sie statt dessen in ein Gespinst akademischer Floskeln zu wickeln, in dem ihre Ecken und Kanten keinem mehr weh tun konnten. Das ist Kracauers Sache nicht. Er hat aber diese alte Art, um die Dinge herumzukommen, nicht verlassen, um statt dessen eine neue zu wählen. Insbesondere ist ihm die Reportage, diese moderne Umgehungsstrategie politischer Tatbestände unterm Deckmanöver der linken Phrasen genau so verhaßt wie das euphemistische Gelispel der Soziologie. »Die Wirklichkeit«, sagt er, »ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird.« Soziologisches Wissen und Beobachtungsmaterial sind also bloße Vorbedingungen dieser Arbeitsweise, die ebensosehr wegen der Originalität als wegen der Durchschlagskraft ihrer Ergebnisse genaue Betrachtung verlohnt.
Daß hier einer sich auf eigene Faust auf den Weg macht, verrät schon die Sprache. Störrisch und stößig sucht sie sich ihre Fixpunkte mit einem Eigensinn, den ihr ein Abraham a Santa Clara hätte neiden können, wenn er seine Bußpredigten von Kalauer zu Kalauer führte. Nur: in den »Angestellten« hat der Bilderwitz die Rolle des Wortwitzes übernommen. Und so wenig jener Kalauer etwas Zufälliges ist, da er vielmehr mit dem Sprachleben des Barockzeitalters zusammenhängt, so wenig kommt ein Bilderwitz von ungefähr, der bei Kracauer auf jene surrealistischen Überblendungen ausgeht, die nicht nur, wie wir es von Freud erfahren haben, den Traum, nicht nur, wie wir von Klee und von Max Ernst es wissen, die sinnliche Welt, sondern eben auch die soziale Wirklichkeit kennzeichnen. »Im Lunapark«, heißt es bei Kracauer, »wird abends mitunter eine bengalisch beleuchtete Wasserkunst vorgeführt. Immer neugeformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, daß sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, läßt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf.« Natürlich ist das mehr als eine Metapher. Denn dieses bengalische Licht glüht ja für die Angestellten selbst auf. Und damit wird klar, welche politische Helligkeit aus solcher Überblendung heraussprüht.
Woher dem politischen Traumdeuter diese Künste kommen? Von literarischen Einflüssen sei diesmal abgesehen. Was der Verfasser, sprachlich vor allem, dem anonymen Autor des »Ginster« verdankt, mag auf sich beruhen. Soviel steht fest, daß seine Deuterpraxis aus dem genauen Studium eigenster Erfahrung erwachsen ist. (Wie weißer Zauber ja mit strenger und nüchterner Betrachtung des Erfahrenen Hand in Hand geht, wo der schwarze nie über Bannkreis und Mysterium hinauskommt.) Die Erfahrung aber, die hier zugrunde liegt, ist einfach die des Intellektuellen. Der Intellektuelle ist der geborene Feind des Kleinbürgertums, weil er es ständig in sich selbst überwinden muß. Hier hat er sich auf seine Stärke besonnen, die darin besteht, die bürgerlichen Ideologien, wenn schon nicht restlos, so in allem zu durchschauen, wo sie noch mit dem Kleinbürgertum zusammenhängen. In den Angestellten aber kommt nun ein neues, uniformierteres, erstarrteres, gedrillteres Kleinbürgertum herauf. Es ist unendlich viel ärmer an Typen, Originalen, verschrobenen, aber versöhnlichen Menschenbildern als das verflossene. Dafür unendlich viel reicher an Illusionen und an Verdrängungen. Mit ihnen nimmt der Verfasser es auf. Nicht in der Art eines Gregers Werle, der gegen die »Lebenslüge«, wie Don Quichote gegen Windmühlen, angeht. Sein Interesse gilt nicht dem Einzelnen, gilt vielmehr der Verfassung einer homogenen Masse und den Zuständen, in denen diese sich spiegelt. Die Summe dieser Zustände deckt ihm der Name Berlin. »Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur; das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird.« Wenn Joseph Roth mit der Behauptung im Recht ist, die er vor kurzem an dieser Stelle aufgestellt hat, die Aufgabe des Schriftstellers sei, nicht zu verklären, sondern zu entlarven, so ist der Autor der »Angestellten« höchst schriftstellerisch an Berlin herangetreten. Das ist an diesem wichtigen Buche nicht das Unwichtigste. Im Augenblick, da die ersten Spuren einer tätigen Liebe zur Hauptstadt sich zeigen, geht man zum ersten Male ihren Gebrechen nach. Eben gab in seinem Monumentalwerk »Das steinerne Berlin« Hegemann die politische Baugeschichte der Mietkaserne, wie sie aus dem Grundbesitze entstand, nun folgt Kracauer mit der Darstellung der Berliner Büro- und Vergnügungspaläste als Abdruck der Angestelltenmentalität, die bis hoch in die Unternehmerkreise hinaufreicht. Gleichzeitig hat er den Posten eines Berliner Berichterstatters der »Frankfurter Zeitung« übernommen. Es ist gut für die Stadt, diesen Feind in ihren Mauern zu haben. Hoffen wir, daß sie verstehen wird, ihn zum Schweigen zu bringen. Wie? Nun, indem sie ihren besten Zwecken ihn nutzbar macht.
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Die Angestellten (Aus dem neuesten Deutschland) von Siegfried Kracauer. Frankfurt a. M.: Frankfurter Societätsdruckerei 1930.
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