Beispielsweise so …
Vier Diener – Naschkleiber – sollen heiße Äschen kaschen, denn vier küßten, wo armer nasser Bär …, wähn ich die Wortspielgefährten der wuseligen 1960er Wendezeiten (widersprüchlich, Woche nach Woche) wetteifern wie wild, Wetter war wohl wiederholt wechselhaft, wirklich windig, wahrhaftig wenig warmer Wonnenschein, und von wie vielen Menschen erinnre ich bis in die frühe Kindheit auf dem Dorfe den sehr persönlichen, lyrisch aspirierten, idiosynkratischen Refrain, der (oft wohl, ohne daß die Sprecher sich dessen bewußt sind) regelmäßig Anfang/Ende der Sätze markiert, abwegige und landläufige Bilder, Metaphern, Figuren aller Art gebärden sich wie toll in ›gut gemeinten‹ Sentenzen, Tropen verstecken sich von A bis Z in wilden Wörtern des aufregend ∙ beinhart ∙ chaotisch ∙ dröge ∙ ekelhaft ∙ elysisch ∙ feinzart ∙ fordernd ∙ gebrochen ∙ gestört ∙ gemein ∙ grausam ∙ halluziniert ∙ hellwach ∙ idiotisch ∙ jovial ∙ kummervoll ∙ läppisch ∙ müde ∙ nervös ∙ opulent ∙ phantastisch ∙ poppig ∙ quietschend ∙ rasant ∙ skurril ∙ staubig ∙ unheimlich ∙ verrückt ∙ verträumt ∙ verweint ∙ wundertütentoll ∙ xenophobisch ∙ yberwütig ∙ zickzackig ∙ zuhackend erscheinenden Alltags, der, zum Vorteil der Verse, füllhornig|müllzornig die poetisch sprudelnde Kraftquelle bleibt, und die luftige (lustige) paragrammatische Assoziation feiert fröhliche Urständ auch in der Lyrik nach 2000: In, beispielsweise, Mikael Vogels Massenhaft Tiere laufen mir nicht bloß Leeren und Lehren der Straßen übern Steg, und dermaßen durchdrungen lese ich, eyes wide as saucers, nein, kein Scherz (eher schon: Merz), auf dem buchstabenblutenden Beipackzettel von SalbuBronch: Zur Erheiterung der Bronchien, und, suchstäblich gleichsam, antithetisch · brachylogisch ∙ chiasmisch ∙ dysphemismisch ∙ elliptisch ∙ floskelhaft ∙ geminationisch · hyperbolisch · ironisch · katachretisch · lautmalerisch ∙ metaphorisch ∙ neologisch ∙ oxymoronisch ∙ paronomatisch ∙ quirilierend ∙ repetitorisch ∙ synästhetisch ∙ teodadaistisch ∙ untertreibend ∙ vulgär · wortspielerisch · xylophonisch ∙ yiddisch ∙ zynisch geht es zu in den alltäglichen Alphabeten von Fabrikanten, Feinden, Fremden, Freunden, Verwandten, Versverfassern, der schatten des dichters schreibt die sonnenzeit (Claus Bremer), daß mir, ja, in der Tat, Hören und jetzt / jetzt jetzt jetzt (beim Lesen von Helmut Heißenbüttels Topographien) auch Sehen vergehen, beispielsweise so bei Oskar Pastior: flunder plunder zander schinder – ›usw.‹
Oder so –
An einem Tag im Mai des Jahres 2012 lese ich in einer E-Mail von Axel Kutsch Gotthold Ephraim Lessings Begehr Wir wollen fleißiger gelesen sein. An diesem heftigen Verlangen hat sich wahrscheinlich wenig bloß geändert seit jener ›guten alten Zeit‹ (die sicherlich alles andre, bloß das nicht war, nicht wahr?). In Massen werden Bücher gedruckt, in Horden Autoren in den Himmel gehoben, aber werden sie auch gelesen? (Muß man sie alle lesen, und wollen sie alle gelesen sein?) »Ja, das weiß man nicht«, seufzt Kraus – vielsagend wie eh und je. Mich mit dieser sibyllinischen Bemerkung keinesfalls abfinden wollend, blättre ich ein bißchen in Büchern und werde schnell fündig – bei Friederike Mayröcker, die ich immer lesen will: Ich möchte einfach, daß Leute meine Bücher l-e-s-e-n. – Und zwar Leser, die etwas mit meinen Texten machen, die mich in irgendeiner Weise kennenlernen und damit wahrscheinlich auch sich selber besser kennenlernen.
Statt die Antwortfunktion anzuklicken, greif ich zum Hörer, und, ich habe Glück, Kutsch ist gleich am Apparat. Es ist die Zeit, während der ich mit den Friederike Mayröcker und Hans Bender gewidmeten Matrix-Ausgaben 28 und 29 befaßt bin, über die wir, naturgemäß, ausgiebig sprechen, es ist aber auch die Zeit, in der ich beginne, das vorliegende Gedichtbuch vorzubereiten. Nachdem die im Anschluß an den 2002 veröffentlichten Lyrikband Land Stadt Flucht geschriebenen Gedichte der Jahre 2003 bis 2012 zusammengestellt sind (unter denen man, das sei am Rande bloß bemerkt, allerlei Anmerkungen gäb es zu machen, soll ich, soll ich nicht, soll ich, soll ich nicht, das eine Akrostichon oder andere Cento auflesen kann), beschließe ich, nach eingehender und, wie man sich denken kann, recht temperamentvoller Beratung mit Peer Quer, das Buch in alphabetischer Reihenfolge einzurichten, die Gedichte, somit, entsprechend der ersten Wörter der Titel als Sprachzufallsgenerator, ohne wenn und ohne aber, die Reihenfolge bestimmen zu lassen.
Über diesen und jenen Buchtitel habe ich während der intensiven Lektoratsarbeit (Gedichte sind organisch-lebendige Gestalten von dynamischer Natur: Dieser Art gemäß kennen sie keine besiegelten Versionen, I don’t look on poetry as closed works, offenbart John Ashbery, sondern drängen dauerhaft nach dem Wunschbild der Vollkommenheit, die sie ausnahmsweise bloß erreichen – so bleiben sie als ›work in progress‹ auf immerwährender Wanderschaft), auch im Austausch mit Mrs Columbo, hin und wieder nachgedacht: Stein von Toledo, In der Schwebe kommen in die engere Wahl, zum Zeitpunkt des Telefonats bin ich jedoch noch nicht zu einem Ergebnis gekommen, was ja nicht schlimm ist, liegt die Herausgabe des Buches doch noch in sehr angenehm weiter Ferne.
Nun erzähle ich Axel Kutsch vom guten ›Zufall‹, der es möglich gemacht habe, jeden Buchstaben von A bis Z tatsächlich mit wenigstens einem Gedicht zu besetzen. – ›Alphabet‹ sei ja vielleicht ein naheliegender Titel … »Aber so heißt nun einmal Inger Christensens so wunderwunderbares Gedichtbuch«, unterbricht Kraus ungefragt den lockeren Gedankengang, im übrigen ohne Not, weiß er doch, daß alfabet zu den Gedichtbüchern zählt, die auch bei mir den kraftvollsten Lektüre-Eindruck hinterlassen haben, und ich, spontan / spielerisch-verspielt, einer feinen Assoziation bloß gefolgt bin. Ich zitiere also Nicanor Parra – Como los fenicios pretendo formarme mi propio alfabeto –, und Kraus, dem das spanisch vorkommt, ist, zunächst einmal, still (wer schweigt erinnert und wer erinnert schreibt, schweigend oder schreibend tritt man über den Rand ∙ Max Bense). – – – Und ich denke, unvermittelt, auf Bücher blickend, Kraus, Kutsch, das Telefonieren, hallohallo?, schlichteinfach verdrängend (und, vielleicht, ein bißchen ›von Sinnen‹), Namenwörter quer und kreuz in loser Reihenfolge, ähnlich Odysseus bin ich, wie sich vielleicht herumgesprochen hat, ebenfalls ein Freund von lustigen Listen, die ich an allen Ecken und Enden (Friederike Mayröcker ∙ Gedicht vom 4.12.2011), an allen Decken und Wänden und auf Teufel komm raus unterzubringen versuche: Aichinger ∙ Brinkmann (Ich finde gewöhnliche Sachen schön) ∙ Celan ∙ Derschau ∙ Erb (Das Letternspiel aus Wolken wandert ungleich) ∙ Fels ∙ George (Leute, die hinter einem Gedicht den ›eigentlichen Sinn‹ suchen, sind wie die Affen, die immer mit den Händen hinter einen Spiegel fahren, als müsse dort ein Körper zu fassen sein) ∙ Hölderlin ∙ Ingold (auf -x reimt alles) ∙ Jandl ∙ Kling ∙ Lavant ∙ Mayröcker (in den Fingerspitzen kribbelt die Buchstabenwelt, usw.) ∙ Novak ∙ Oppenheim ∙ Priessnitz ∙ Quasimodo (Giorne dopo giorno: parole maledette) ∙ Reinig ∙ Saalberg ∙ Törne ∙ Uetz ∙ von der Vring ∙ Wühr ∙ Xenakis (Es ist verboten / in der Zelle hin und her zu gehen) · Yeats (The poets labouring all their days / To build a perfect beauty in rhyme / Are overthrown by a woman’s gaze) · Zenke – und denke an Marcel Beyers Wespe, komm in meinen Mund, / mach mir Sprache, innen.
Also?
Gleichzeitig verirrt sich wohl auch Axel Kutschs Blick in Bücherwänden, bis er an einem Buchrücken hängen bleibt und die drei Wörter Das verlorene Alphabet, die den Rücken von Michael Brauns und Hans Thills Lyrikanthologie der 90er Jahre zieren, ›einfach so‹, unvermittelt, im virtuellen Raum zwischen Bergheim/Erft und Sistig/Eifel stehn, woraufhin ich, schon wieder wortverspielt, umgehend offeriere, doch ein ›gewonnenes‹ Alphabet draus zu machen. Bevor Kutsch überhaupt bloß daran denken kann, die offenbar rasche Kopfnickreaktion in Wörtern zum Ausdruck zu bringen (das erfahre ich nach dem Scharmützel), hauen, wie so oft, die usual suspects naturgemäß und kaltblütig dazwischen and remind me, once again, of the beginnung of a beautiful friendship. O-Ton Bensch: »Nicht schlecht – ›begonnenes‹ Alphabet!« Und Kraus: »Ach ja? ›Gesponnenes‹ Alphabet?« Dagegen Quer: »Von wegen – ›zerwonnenes‹ Alphabet!«
Ich winke, schmallippig, ab, während mir noch ein paar mehr Möglichkeiten ins Köpfchen flattern, ogottogott – ein Wort (Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen / erkanntes Leben, jäher Sinn, /die Sonne steht, die Sphären schweigen, /und alles ballt sich zu ihm hin. // Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, /ein Flammenwurf, ein Sternenstrich – /und wieder Dunkel, ungeheuer, / im leeren Raum um Welt und Ich), und, simsalabim, schon dreht sich das Wortkarussell / dehnt sich das Sprachuniversum weiter und weiter und weiter (usw.): Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.
Nein ∙ nicht so ∙ sondern so:
Ich bringe jetzt also lieber mal Mutter Katharina Breuer geborene Boßhammer, die von 1924 bis 2003 in Bürvenich lebte, in meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs / wurde auch kein Chopin gespielt, ins schöne Spiel, die mich als Kind beglückt, indem sie mir, beispielsweise, wieder und wieder und wieder, das irgendwann nach 1900 vom Großvater zusammengereimte Alphabet vorspricht, das ich Kutsch, ohne Rücksicht auf Verluste, Knall auf Fall und mir nichts dir nichts vorspreche: abel ∙ babel ∙ christoph ∙ dabel ∙ er ∙ fuhr ∙ gegen ∙ himmel ∙ in ∙ [ja!] ∙ klare ∙ luft ∙ manche ∙ neue ∙ obrigkeit ∙ peter ∙ quast ∙ reiner ∙ saft ∙ tante ∙ ulla ∙ von ∙ westphalen ∙ itschka ∙ yitschka ∙ zimmermann. Kein Wunder demgemäß, daß ich mit drei bereits lese und schreibe wie ein Weltmeister (Waldmeister?), naturgemäß ohne lesen und schreiben zu können, zumal das Alphabetgedicht nicht der einzige lyrische Text bleibt, den Mutter mir nahebringt, so sprechen wir Abend für Abend gemeinsam Luise Hensels (übrigens einziges je veröffentlichtes) Gedicht Müde bin ich mit den abschließenden Versen Laß den Mond am Himmel stehn / Und die stille Welt besehn! Im Gedicht k[l]eine biographische trauerlegende ist die Rede von bom bom bitzele, dem Auftakt zu dem ebenfalls vom Großvater gemachten dadafulminanten Erzählgedicht, das die Lust auf Wörter, Texte, Alphabete weiter befeuert: was wird sein wenn / ich schon bald vielleicht statt in den Büchern / zu lesen nur noch über die Buchrücken meiner Bibliothek / werde streichen können (FM) …
Das sind klangsangvolle Augenblicke, the music of the words is where the meanings begin (Paul Auster), die ich, wohlgemut, als ›wonnetrunkene‹ Momente der Kindheit erinnre und so auch heute frohen Herzens genieße, denke ich, während die CD mit Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitschs fünfter Sinfonie, hältst du nicht inne?, weiter rasante Runden dreht. – – – Weh mir / die Jahre kommen und vergehn / so sind wohl manche Sachen, nie habe ich mich irgendwo – und ging’s Giuseppe Ungaretti, beispielsweise, anders (nein): In nessuna / parte / di terra / mi posso / accasare – außerhalb von in Büchern gelesenen (bzw. in Manuskripten geschriebenen) Buchstaben, Wörtern, Versen und Zeilen unzweideutig heimisch fühlen gelernt – wie etwa wenn ich, auf Reisen in Francisca Ricinskis Zug ohne Räder, das warme Wortland entdecke oder durch die stillen Höhenzüge der Verse Friedrich Hölderlins wandre: Gewässer aber rieseln herab, und sanft / Ist hörbar dort ein Rauschen den ganzen Tag; / Die Orte aber in der Gegend / Ruhen und schweigen den Nachmittag durch.
»Wer, was und wo wärst du ohne das einstmals so fröhlich begonnene Alphabet, das du, tagein tagaus, zu verlebendigen, aufs neue zu gewinnen suchst – allen Widerständen zum Trotz?« fragt Bensch, der gute Mensch von Schleiden, dessen Mienenspiel ich stets mit Jandls gar traurig geht das hundelvieh / auf einer zeh und einem knie in Verbindung bringe, und aus dem Off tönt Gerald Fiebig trotzig-apodiktisch mit der Antwort: man ist niemals am richtigen ort. / ob in büchern oder städten: / zwischen zeilen & zeichen: / der tod. – »Na bravo«, meint Quer (ist das Häme?), rezitiert – Was wir nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch nicht sagen, was wir nicht denken können – ins Blaue hinein Ludwig Wittgenstein, Lesen geschieht in der abenteuerlichen Offenheit des Nichtverstehens, kontre ich, konfus, kopflos, mit Hans-Jost Frey, und mich fröstelt wie ein pferd, das durch Jandl-Verse trottet. – Später lese ich in Hans Benders Aufzeichnungen: Splendid isolation. Du, allein, mit einem Buch. Na also, meine ich. Geht doch. Oder anders (mit Georg Trakl und Trude Herr): Es ist – gut.
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Der Essay Zuletzt sowie das Bildgedicht Simple Poem aus: Theo Breuer, Das gewonnene Alphabet, Gedichte · Glossar · Essay, 121 Seiten, Broschur, Pop Verlag, Ludwigsburg 2012.
(Die übrigen Bildgedichte aus: Theo Breuer, Word Theatre. Visuelle Poesie, Redfoxpress, Dugort/Achill Island/County Mayo/Irland 2007.)