Flirren

 

Ein Flirren lag in der Luft. Man brauchte keine prophetischen Gaben, um vorauszusehen, dass sich am Nachmittag Unmengen von Menschen über die Kirmes wälzen würden, um sich neue Angebote anzusehen, und dann doch an einem Stand mit einer Pferdewurst und einem frisch gezapften Pils in die Saison zu starten.

Jacqueline ließ die Anbaggermeile links liegen und trippelte im Bayernzelt die Treppen zur Empore hinauf. Von diesem Tribünenplatz hatte sie eine gute Sicht auf die Bühne. Traditionell wurde die Cranger Kirmes vom Oberbürgermeister mit einer Rede und dem Anstich eines Bierfasses um 11.00 Uhr eröffnet. Jacqueline ließ sich diesen Augenblick nie entgehen. Vor der Bühne hatten Fernsehsender ihre Kameras aufgebaut. Die Reporter der Kommerzradios machten Aussteuerungstests und hielten ihre Mikros in die Luft, um den Schlachtruf mitzuschneiden. Die rothaarige Pressereferentin verteilte die Rede des OB’s an die Vertreter der schreibenden Zunft mit dem Vermerk, dass hier das gesprochene Wort gelte. Die Getränke für die veröffentlichte Meinung waren selbstverständlich frei. Auch an den langen Tischreihen floss das Bier in Strömen. Blau–weiße Girlanden flatterten schlapp vom Zeltdach herab. Eine drückende Schwüle breitete sich unter dem ganzen Zelt aus. Man wartete auf den obersten Beamten. Jacqueline erspähte in den vorderen Tischreihen den alten Oberbürgermeister. Der alter Herr hatte schon das Fass angestochen, als sie ein kleines Kind war. Es war die Zeit, als ihre Eltern noch lebten und sie mit hierhin nahmen. Jacquelines Vater hatte sich jedesmal zur Kirmes Urlaub genommen. Ihre Mutter hatte den Trubel nie so recht gemocht. Die vielen Betrunkenen störten sie. Die kleine Jacqueline störten sie nicht. Im Gegenteil. Meist bekam sie ein paar Groschen zugesteckt oder eine Brause spendiert. Kirmes auf Crange, dass war für sie der Himmel. Hier lernte sie saufen, kotzen und ficken, in genau der Reihenfolge. Dem ersten dicken Kopf folgte ein Kater und diesem beinahe auch ein Kätzchen; sie verlor es bei ihrem ersten Auslandsaufenthalt in Holland.

Der Oberbürgermeister betrat schwungvoll die Bühne, winkte ergriffen ins Publikum und wurde mit rhythmisch einverständig klopfenden Humpen begrüßt. In seinem dunklen Anzug sah der oberste Bürger nicht wie jemand aus, der sich von seinen Emotionen leiten ließ. Man erhielt den Eindruck, er sei nach Crange ins Bayernzelt gekommen, um hier seinen Job zu machen. Mit einem Pochen auf das Mikro verschaffte er sich Aufmerksamkeit. Seine Rede war kenntnisreich. Endlich rezitierte er die Worte, auf die das Publikum wartete:

»Piel op no Crange!«

Draußen donnerten Böllerschüsse. Damit war die Kirmes offiziell eröffnet. Jacqueline zuckte unter dem Donnern zusammen. Instinktiv tastete sie nach dem Stilett in ihrer Lederjacke. Sie stürzte die Treppe hinab, stiess die Entgegenkommenden beiseite und grölte:

»Getz‘ geht’s looooos!«

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.