Farbflash

 

Jacqueline schlenderte ihren Lieblingsweg den Kanal entlang. Unterhalb des Eierbergs. Früher hatten sich dort die Kirmesarbeiter mit den einheimischen Schönheiten getroffen. Hatten ihnen mit Geschichten aus der fremden Ferne imponiert. Geraubte Küsse und andere Genüsse. Der Eierberg war, wenn man die Kohlehalden als Maßstab nahm, ein sanfter Hügel, traditionell immer noch der Platz, auf dem das Feuerwerk gezündet und in den Himmel geschossen wurde. Früher umgab ihn ein geheimnisvoller Zauber. Geschichten rankten um diesen Hügel. Geschichten, die nicht nur mit Blut geschrieben wurden. In jeder Stadt fand man solche Plätze. Die Bürger sahen darüber hinweg oder sie sahen erst gar nicht hin.

Wie jeden Einzelgänger zog sie die Kirmes mit ihren leuchtenden Farben, der lauten Musik und den verschiedenartigen Gerüchen an. Jacqueline erkannte nicht, dass sie ein einsamer Mensch war. Sie fühlte sich wohl unter den Menschen, die sie nicht kannte, nicht kennenzulernen brauchte. Sie konnte ihnen aus dem Weg gehen, oder aber ein belangloses Gespräch beginnen.

»Na, gefällt es ihnen auch so gut?«

»Aber sicher doch!«, krähte der Rentner und starrte auf ihre Doc Martens. Sie hätte auch fragen können: „Gefällt ihnen das Totentänzchen?“

Jacqueline ging an den Wohnwagen vorbei. Hinein in den Trubel. Sie war überrascht, wie unterschiedlich die Geräuschkulissen waren. Am Kanal war es ruhig, und vor dem Thriller pumpten fette Bässe aus der Box.

Als Relikt aus vergangenen Jahrmarktszeiten stand die Boxbude neben der computergesteuerten Achterbahn. Auf Crange lockte das Schaugeschäft jedoch kaum weniger Zuschauer an als der benachbarte Thriller. Acht Profiboxer und ein Catcher warteten auf ebenbürtige Kontrahenten, die noch zögernd in der Menge standen. Der Leuchtschriftzug Sport–Palast strahlte ihnen entgegen. Jacqueline blieb interessiert zwischen anderen Zuschauern stehen. Die Boxer zeigten auf der Bühne in voller Montur in unterschiedlichen Posen, was sie konnten. Einer trommelte in den Sandsack. Ein rothaariger Ansager quasselte im Stil aufdringlicher Kommerzfernsehmoderatoren ins Mikrofon:

»Begrüße Sie, meine Damen und Herren, herzlich willkommen im Sport–Palast! Hier ist er, der Zirkus Maximus einer neuen Zeitrechnung. Leben und sterben lassen – mit den Gladiatoren der Neuzeit. Wie Sie sicher wissen, steht der Sport–Palast schon seit 28 Jahren auf Crange. Und haben wir Sie je enttäuscht?«

Seine schmierige Anmache wurde begleitet von abfälligem Gelächter, Pfiffen und Applaus. In seinem eng sitzenden Pitbull–Smoking wirkte er mit seinem Wabbelbauch nicht als Blickfang. Seine schrille Stimme sägte sich in die Gehörwindungen, und doch konnte man nicht wegsehen und an seinen Sprüchen nicht vorbei hören:

»Im Sport–Palast steigen auch Frauen in den Ring. Ja, junge Frau, Sie da, genieren Sie sich nicht! Kommen Sie ruhig nach oben und legen sie einen Mann flach!«

Die ersten Neugierigen aus dem Publikum gingen die Treppe zum Sport–Palast hinauf und kauften an der Kasse Eintrittskarten.

»Jawohl, das ist Boxen in Vollendung!«, verkündete das Grossmaul im Brustton der Überschätzung und präsentierte die Kämpfer wie ein Pferdehändler. Jacqueline beobachtete das geölte Muskelspiel der durchtrainierten Körper, sah in die gelangweilten Gesichter der Boxer, die teilnahmslos über das Publikum hinwegstarrten. „Morituri te salutant!“, würde von ihnen wahrscheinlich niemand vor dem Kampf rufen müssen. Das Publikum grölte.

»Also, normalerweise muss ich ja nichts mehr sagen… aber immer wieder sehe ich neue Gesichter. Wenn Sie bei uns in den Ring kommen, können Sie das große Geld machen. Sie können, wenn Sie alle unsere Kämpfer k.o. schlagen, mehrere tausend Euro gewinnen. Soll niemand sagen, er hätte von nichts gewusst. Die Prämienauszahlung erfolgt nur bei k.o.–Sieg«, zog der Animateur seine Show eisenhart durch und hatte Jacqueline im Visier. Dann glitt sein Blick weiter über den Vorplatz, auf dem sich die Schaulustigen versammelten.

 »Die Runde dauert eine Minute.«

Jacqueline belauschte das Gespräch eines jungen Paares neben sich. Er trug ein T–Shirt mit dem neonfarbenen Aufdruck: „Ich trinke, rauche Shit, lese Pornos und bin ständig geil.“

 »Das muss ich mir unbedingt ziehen!«, stellte das Gothic–Girl gehobene Ansprüche an den Trash. Jacqueline lächelte über die Mischung aus Selbstgewissheit und Selbstüberschätzung, prägendes Zeichen für eine Generation, die gelernt hat, dass Freiheit nichts mehr ist, was man erstreiten muss.

»Ne Schlägerei kann’sse auch für umsonst im Bayernzelt haben!«, kam seine Antwort prompt. Hauptsache verhaltensmaskiert bleiben. „Sich von nichts und niemandem überraschen lassen, abwarten was kommt!“, schien die Losung eines restlos verlotterten Jahrhunderts.

»Voll geil, Muckis und Schweiß!«

Der Einheizer auf der Bühne ließ sich nicht beirren und gab weiterhin sein Bestes:

»Auch Damen können antreten.«

»Meine Fights mach‘ ich woanders klar«, rief das Gothic–Girl frech nach oben und zeigte ihm den Stinkefinger.

»Schicken sie etwa ihren gut gebauten Begleiter auf die Bretter?«, versuchte sich der Möchtegern–Entertainer dem Publikumsgeschmack anzubiedern, zog seine Deppenkappe tief ins Gesicht und kostete die Lacher aus.

»Is zu hart…«, gab die Postpunkerin lakonisch retour. Die Menschen kamen auf ihre Kosten. Hinter der Wattewand hörte Jacqueline Lachen. Man hätte ihr die Schädeldecke aufmeisseln können, sie hätte es kaum bemerkt. Sie nahm den eigenen Körper nur in den Zuständen der Migräne und der Sinnlichkeit wahr.

»Junger Mann, wir haben in ihrer Gewichtsklasse genau die richtige Herausforderung: Lupo de la Vega aus Mexiko…«

Ein Boxer, der das lange Gesicht eines Frettchens hatte, trat hervor, streckte die Fäuste vor und machte ein paar Luftbuchungen.

»Wat? Ich muss nix niemandem beweisen. Echt nicht!«, nörgelte Ansgar.

Jacqueline wurde unruhig, trat von einem Fuß auf den anderen. Hornissen im Hintern. Entweder sie ging oder sie stieg in den Ring. Die Schmerzen kamen in unterschiedlicher Intensität, seit fast zehn Tagen. Die Migräne gab als Alternative nur noch Saufen bis zum Abwinken vor. Sonst keine Alternative. Derweil stellte der Mann am Mikro seine Boxer weiter vor:

»Wir sehen im Mittelgewicht: Igor Kyrilow aus Tadschikistan. Im Schwergewicht Bika Bele aus Burkina Faso… und hier haben wir sie schon, die Herausforderer: Arne Weber aus Eickel, Maschinenschlosser. Erdal Gülünoglu aus Herne, Hauer unter Tage. Klaus Reiner aus Wanne–Nord, Schweißer. Diese Männer sind der lebende Beweis, dass es ehrliche Herausforderer in einem ehrbaren Sport gibt. Sind Sie mit ihrer Freundin da? Dann sollten Sie noch schnell ein Foto von sich machen lassen.«

Jacquelines Hand schnellte wie von allein hoch. Die Typen um sie herum glotzten kuhäugig, als sie federnd die Treppe hinaufging.

Der Sport–Palast entpuppte sich hinter dem pompösen Aufgang als Zirkuszelt. Etwa vierzig Quadratmeter Bodenfläche. In der Mitte stand der Ring. Ihr Gegner war ein mittelgroßer Pole, muskulös, kein Gramm Fett am Körper, und er hatte den fixierenden Blick einer Schlange. Im Zeltinnern hatte sich das Publikum versammelt. Der Ansager nahm Jacqueline für einen kurzen Augenblick zur Seite.

»Sie können nicht gewinnen. Das ist ihnen klar. Machen sie Kampfsport?«

»Nein.«

»Gut dann. Sie werden ehrenvoll den Ring verlassen. Dafür bürge ich. Bleiben sie also fair.«

Jacquelines Kopfschmerzen wurden unter dem Applaus im stickigen Zelt noch schlimmer. Sie hatte das Gefühl, ihre Schädelplatte würde jeden Moment abheben. Ihre Vorgänger verließen geschlagen, aber nicht gedemütigt den Ring.

Danach war Jacqueline an der Reihe. Sie legte ihre Lederjacke über den Pfeiler. Ließ sich vom Ringrichter die Boxhandschuhe überstreifen. Ihr Gegner stieg als erster in den Ring. Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie er sich sofort akklimatisierte. Hier war Jackie zu Hause. Wahrscheinlich ging er selten geschlagen aus dem Ring. Sie wurde in eine Ecke gebracht. Es hämmerte und donnerte in ihrem Schädel. Der Boxer sah sie teilnahmslos aus der gegenüberliegenden Ecke an. Sie sah ihn ebenso an. Er konnte nicht ahnen, dass ihre Migräne ins Unerträgliche gestiegen war. Der pochende Schmerz hinter den Augen machte es ihr beinahe unmöglich, sie hin und her zu rollen.

»Echt turbogeil«, hörte sie die hysterisch kreischende Stimme des Gothic–Girls. Sog die Rufe des tosenden Mobs in sich ein. Konzentrierte sich auf die rote Matte mit blauem Stern.

»Süß: Weiße Boxhandschuhe. Blaue Trikots. Gelbe Leibchen. Voll der Farbflash.«

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.