Riesenbuch
Als Zettels Traum 1970 erschien, war der Roman – oder was immer das für eine Art Buch sein mag – die Sensation der Literatursaison: »Riesenbuch«, »Buch der Bücher«, »Überbuch«, »Arno Schmidt, Außenseiter der Außenseiter«. Kritik und Leserschaft überschlugen sich mit Kommentaren, Berliner Studenten erstellten einen Raubdruck – wohl etwas Einmaliges in der Geschichte der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts –, und ein Werk, dem Arno Schmidt (1914–1979) selber höchstens drei- bis vierhundert echte Leser zugetraut hatte, wurde vom Bestseller zum Longseller, der bis heute seine Leser hat.
2002
In Jahr 2002 erschien die Sonderausgabe von Zettels Traum, und am 22. November 2002 – eben habe ich noch einmal ehrfürchtig auf den Kassenzettel geblickt, der als Lesezeichen im Buch liegt – schaffte ich mir, endlich, endlich, das Buch an, das zu jener Zeit schon seit über dreißig Jahren auf dem Büchermarkt ist und seit Jahren auf meiner Wunschliste steht. Alles hat seine Zeit, gehört zu meinen liebsten biblischen Sprüchen, und ich las erst einmal etliche andere Bücher Schmidts, dessen Roman Das steinerne Herz zu meinen erklärten Lieblingsbüchern gehört, bis ich mich, heute vor zehn Jahren, ›reif‹ fühlte für das »Buch der Bücher«.
Obwohl …
In den Jahren zuvor blätterte und las ich allerdings immer wieder in diesem voluminösen, 1334 Seiten umfassenden Wälzer Zettels Traum (und direkt über dem Schreibtisch hängt seit Jahrzehnten ein Action Painting bestehend aus zahllosen Zetteln und Farben mit demselben Titel) – in Bibliotheken, bei Bekannten, in Buchhandlungen, wo das Buch gelegentlich zu finden war. So hatte ich schon seit Jahren einen brauchbaren Eindruck dessen, was ich nun während der Herbst- und Wintermonate 2002/2003 zuhause erlebte, und dieses Werk fesselte und berauschte mich wochenlang derart, daß ich an nichts anderes denken konnte:
- obwohl die »Handlung« dieses schweren Schinkens von lediglich sechs Personen (bzw. drei Pärchen) getragen wird – dem hochgebildeten (kauzigen und höchst sarkastischen) 55jährigen Gastgeber Daniel Pagenstecher (Schriftsteller, Übersetzer, Bücherwurm) und dem befreundeten Ehepaar Wilma und Paul Jacobi sowie deren 16jähriger Tochter Franziska, die sich in Pagenstecher verliebt und ihm Avancen macht, auf die dieser allerdings (letztlich aus Versagensangst) nicht eingeht sowie Franziskas Schulfreundin Christa und Edgar Allen Poe (die als Pärchen unsichtbar sind, wie Schmidt irgendwo schreibt) – und die Geschichte nur einen einzigen Juli-Tag dauert und …
- obwohl dieses Werk – das in normalem Druck einem Buch von fünftausend Seiten entspräche – aus einem in unendlich viele literarischen, psychologischen (psychoanalytischen), esoterischen, soziologischen (…) Richtungen und Nischen mäandernden, mit Assoziationen, Erinnerungen, Querbezügen und (Poe-)Zitaten aller Art gespickten Monologs des Gastgebers besteht – das alles nicht professionell gedruckt, sondern als ein mit Berichtigungen (und nonkonformistischem Umgang mit Rechtschreibung und Zeichensetzung) als photomechanisch reproduziertes Faksimile des auf einer übergroßen Schreibmaschine getippten dreispaltigen Originalmanuskripts …
Die vierte Dimension
Denn trotz all dieser niederschmetternden Fakten ist Zettels Traum – der Titel geht unter anderem auf die 120.000 Zettel, die Schmidt während der Niederschrift anlegte, sowie auf William Shakespeares Ein Sommernachtstraum zurück – ein außerordentlich spannendes und sinnliches Buch, in dem es auf nahezu jeder Seite »knistert«. Von Beginn an wird gestritten und geflirtet auf Teufel komm raus: Pagenstecher glaubt nämlich über Freuds Ich, Es und Über-Ich hinaus eine vierte – pornographische – Dimension gefunden zu haben, gegen die sich Wilma (die ihre Tochter offenbar noch vor den facts of life schützen will), aber auch Paul zunächst heftig zur Wehr setzen, würde doch der idealisierte (und von ihnen zu übersetzende) Edgar Allen Poe plötzlich zu einem ziemlich verschweinten Literaten – wenn nämlich harmlose Wörter wie pen auch als penis, genial als genital oder Fouqué als Fucké und schließlich als fuck gelesen werden können. Das Hin- und Herspringen zwischen deutscher, französischer und englischer Sprache gehört zu den Idiosynkrasien dieser offenbar mit Blick auf Arno Schmidt selbst modulierten Hauptperson.
Insgesamt werden Tausende von Beispielen pornographischer oder anderer Art gebracht. Rolf Dieter Brinkmanns Wortschöpfungen wie Viehlologie und Ziviehilsation und die mehrspaltige Schreibweise in den Materialienbänden gehen auf den Einfluß seiner Lektüre von Zettels Traum zurück, in dem ich bereits auf den ersten Seiten die Randnotiz phil – viehl finde.
Buchstäblich
Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Ulysses von James Joyce (der Roman des 20. Jahrhunderts – wenn nicht aller Zeiten) oder Fluß ohne Ufer von Hans Henny Jahnn (um nur einige wenige zu benennen) sind bereits monumentale Bücher, an denen mancher Leser gescheitert ist, aber Zettels Traum sprengt schon allein wegen seiner gigantischen Ausmaße buchstäblich alle Dimensionen – ganz zu schweigen von der ungeheuren strukturellen Komplexität des Romans.
Ich habe Zettels Traum nie in einem durchgelesen: Zettels Traum ist ein Buch fürs ganze Leben. Jedes Jahr im November lese ich einige Tage darin, mehr als die Hälfte habe ich hinter mir und freue mich, noch einmal die gleiche Lesestrecke vor mir zu haben.
Ähnlich geht es mir mit Alfred Döblins Wallenstein, bei dem ich – wie etwa bei Kafka – jede einzelne Seite für sich genießen kann; allein die erste habe ich mehrfach gelesen – herrlich. Jede der 1023 kleingedruckten Seiten bietet dem Liebhaber der deutschen Sprache einen sprachlichen Leckerbissen, wenn nicht gleich mehrere. Hoffentlich bleiben mir also noch viele Jahre zum Lesen.
Haken und zwicken
Bitte erwarten Sie abschließend – außer der kurzen Bibliographierung – keine weitere Zusammenfassung: Wie denn? Ich mag sie nicht, die oft unscharfen Ergebnisse, die apodiktischen Festschreibungen, die abstrahierenden Begrifflichkeiten, die immer richtig und stets falsch sind, die bürokratistischen Klassifizierungen, die hier zu kurz greifen und dort haken und zwicken. Lassen wir jedes Buch sein eigenes, ihm von Autor und Leser eingehauchtes Leben leben, in dessen Handlungsstränge wir uns verwickeln, in dessen Gedankengänge und Formulierungen wir uns hineinziehen lassen. Wir fordern es, wir höhlen es aus, wir dekonstruieren es und erfreuen uns des f•r⁄a◊g›m↔e-n♦t·a¿®↓i←s♥©†h→e↑n Daseins.
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Arno Schmidt, Zettels Traum, 1334 Seiten, Faksimile-Wiedergabe des einseitig beschriebenen, 1334 Blätter umfassenden Manuskripts des Werks Zettels Traum von Arno Schmidt, Fischer Taschbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002.
PS 2010 erschien Zettel’s Traum · Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe IV/1. Standardausgabe als gesetztes Buch im Suhrkamp Verlag – der Titel erstmals in der Schreibweise des Autors.