Das amorphile Mädchen

 

»Wo ist sie abgeblieben?« Shari suchte mit fiebernden Augen die Menge ab. Sie hatten Jacqueline auf dem Kirmesparcours verloren

 »Soll deine Freundin werden, oder was?«, reagierte er eifersüchtig. Sah Shari wie durch ein Vergrösserungsglas. Erkannte sie nicht wieder.

»Brauchste Schläge, oder was?«, keilte sie. Shari stellt das kokette Kind und das burschikose Biest mit wunderbarer Spiellust dar, nie aber bloß. Sie wusste, dass sie ihn am Wickel hatte, und das schärfte sie noch mehr an. »… Friedhof war doch geil oder etwa nicht? Wahre Frauen teilen alles.«

Jacqueline war gar nicht so weit von ihnen entfernt. Sie ist der Schatten in uns allen. Die dunkle Seite in uns selbst, die tödliche, die kreative, verführerische, die sexuell attraktive Seite. Für Männer und Frauen gleichermaßen. All das, was in einer demokratischen Gesellschaft gern verdrängt wird, das, was unausgesprochen bleibt.

Ansgar wollte wieder auf sein Terrain zurück, dahin, wo er sich genau auskannte. Diese Pussy konnte ihm gestohlen bleiben.

»Ehj, sieh dich um!«, übernahm er die Führung. Drückte ihr eine E zwischen die Zähne. Sie schluckte. Lächelte ihn an. Er war ihr Doc. Wenn es ihm Spaß machte, spielte sie halt die Patientin. Als sie in den Scooters saßen, schmiegte sie sich in seinen Arm.

Die Einfachheit des Herkommens entsprach der Schlichtheit seines Denkens. Ansgar versuchte, die brutalen Auswüchse seiner verkorksten Biografie zu einem rebellischen Akt zu verklären. Fühlte sich als Quintessenz aus fünfzig Jahren Rock’n’Roll & Jugendrevolte. Von Elvis, dem armen weißen Jungen, der mit schwarzer Musik den Nerv der Zeit traf, über Johnny Rotten, dem armen weißen Jungen, der einer zynischen, selbstgerechten und zu Tode liberalisierten Welt ihre böse Fratze zeigte, bis hin zu Kurt Cobain, dem armen weißen Jungen, der zum Helden der Welt wurde, indem er stellvertretend ihren ganzen Schmerz erlitt… so glaubte er in dieser Nacht sämtliche mythischen Rock’n’Roll–er in sich zu vereinen.

»Halt dich fest!«, schrie Ansgar. Knallte den Wagen gegen die Umrandung. Gab Gas. Verfolgte die Fratzen. Stellte sie. Rammte ihren Wagen. Fuhr den Mittelfinger raus.

»Klar doch!«

Brunftzeit im Hochsommer. Stellen. Nicht ablassen, bevor der Gegner am Boden liegt. Und dann noch mal zutreten, bis es knackt.

»Bist mein Pilot!«

»Bist meine Perle!«, bestätigte er und lenkte den Scooter in die Parklücke, unschlüssig darüber, ob sie noch eine Runde drehen sollten. Sie kuschelte sich an ihn. Legte ihren Arm um seine Schulter. Den Kopf an seinen Arm. Spielte das amorphile Mädchen. Der Sprücheklopfer hatte etwas in seiner Tasche, was sie haben wollte.

»Und wir waren auch niemals auf dem Cranger Friedhof?«, erkundigte sie sich scheinheilig.

»Niemals!« Ansgar schaute stur nach vorn.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.