MS Franziska

 

Ein Virus oder ein Festplattenriss im Hirn? Im Sprinttempo lief Gedachtes in Giancarlos Kopf Amok: „Sie taxiert mich. Checkt mich ab. Zoll um Zoll. Sieht mich an. Ganz genau. Meine Augen. Nase. Mund. Brust. Hände. Beine. Meine Schuhe. Muss mich zwingen, sie nicht anzustarren. Nur anzusehen. Kein Zweifel, sie ist der schwarze Engel. Wie sie mich ansieht: Taxiert. Musternd, abschätzend, angriffslustig. Sie darf die Tasche nicht öffnen!“

Er spürte den harten Kuss auf den Lippen, leckte sein Blut, während sie ihn anlächelte. In einer Zeitung, deren Blätter im Wind wedelten, stand zu lesen: „Großer Andrang auf Schloss Strünkede! Über 10.000 Besucher des Spiels um den Westfalen–Pokal zwischen Westfalia Herne : DSC Wanne–Eickel.“ Nicht nur, weil der Pokal seine eigenen Gesetze hatte, es begann die Zeit, in der sich die Anhänger vom Kommerzfußball abwandten. Weg von überzogenen Gehältern, Verschuldung und Personenkult. Fußball modernster Prägung war eine Unterhaltungsshow, bei der der Bezug zur Wirklichkeit längst verloren gegangen war. Die Ideale des Sports wurden, im wahrsten Sinne des Wortes, mit den Füßen getreten. Diese Anhänger wandten sich dem einzig echten und wahren Fußball zu. Sie brauchten keine Sterne mehr am Himmel, nur noch gelungene Züge auf dem Platz, selbst wenn es sich lediglich um einen Aschenplatz handelte. Die Menschen im Ruhrpott waren aus einer überhitzten Konjunktur ausgestiegen. Wichtig war hier nur noch: „Auf´m Platz.“

»Ole, DSC, ole, ole!«, schwamm es auf einer Kakofonie aus Hupen, Fanfaren und dem gleichmäßigen Tuckern des Motorboots MS Franziska, das über den Kanal schipperte und sich einen exklusiven Platz für das Feuerwerk sicherte. Kloakenschwoof für Begüterte. Es begann zu nieseln. Ein kurzer Sommerschauer, bei dem der Himmel sich auswrang wie ein Waschlappen. Die Feuerwerker brachten ihr Material in Deckung. Am Ufer versanken die Häuser und die Straßen im schmutzigen Grau unter dem funzeligen Licht der Straßenlaternen. Der Regen schlug gegen die Scheibe des Cafés.

»Ole, DSC, ole, ole!«, nahmen sie den Chorus auf. Zwar waren sie nur noch ein Stadtteil, doch das Derby gewannen sie gegen den Lokalrivalen immer. Auf der dunklen Straßendecke glitzert in dunklen Pfützen Motorenöl. Schlierige, schillernde, klebrige, Kreise. Giancarlo fühlte sich einsam. Sein Zustand kam ihm schlimmer vor als Heimweh, das schrecklichste Wort, das er in dieser Sprache gelernt hatte.

»Ole, DSC, ole, ole!«

Party allerorten. Die MS Franziska trudelte, einer Rettungsinsel gleich, über den Kanal. Er wusste, es würde ihn einige Anstrengung kosten, sie wieder vorbehaltlos anzusehen. Die Anspannung hatte Giancarlos ganzen Körper erfasst und seine Muskeln erstarren lassen. „Vielleicht sollte ich besser gehen. Einfach aufstehen. Grüßen und weggehen, so einfach könnte es eigentlich sein…“ Seine Gedanken–Ketten–Reaktion hielt ihn auf dem Stuhl fest. „Muss wieder nüchtern werden…“, dachte er verzweifelt, verzog das Gesicht, nachdem sie ihm ein weiteres Pinnchen hingestellt hatte.

»Questa volta e proprio finita!«, fluchte er vor sich hin. „Hol sie doch der Teufel. Hol diese ganze Kirmes doch der Teufel.“ Giancarlo wachte aus dem verklärten Gestern in einem verkaterten Heute auf. Bot seine ganze Kraft auf, um aufzustehen. Er beugte sich über den Tisch. Nahm Anlauf. Sah ihr ins Gesicht. Sie hatte sich verjüngt. Es war so gleichmäßig wie zuvor.

Jacqueline nickte ihm zu. Giancarlo stellte fest, dass er sie ganz normal ansprechen konnte, ohne gleich in Panik auszubrechen. Er torkelte nicht. In seinem Kopf schien es wieder ganz normal zu ticken. Wahrscheinlich war es sein Rückenmark, uraltes Nervengebilde, älter als das menschliche Gehirn, das die Angst abspeicherte: eine Furcht, die er so oft gar nicht wahrhaben wollte, die ihm den Trieb zum Überleben gab, wenn er auch noch so brutal von Schicksalsschlägen gebeutelt wurde. Das laute Tschingderassa der Kirmesorgel brüllte dagegen an. Ansonsten gab es kaum nennenswerte Niederschläge. Die erhoffte Abkühlung war nicht eingetreten. Noch immer stand die dampfende Hitze in der Luft.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.