Schleusenwärter

 

Die aufgehende Sonne hatte die Farbe von glühendem Stahl. Alles blieb ruhig im Hotel Alt Crange, den Häusern, den Wohnwagen. Noch. Der Müll der Cranger Kirmes blieb auf den Straßen kleben. Der Goldrausch war vorbei. Die Menschen hatten sich in die Wohnmaschinen verkrochen, um ihren Rausch auszuschlafen.

Ein verirrter Kolkrabe landete auf der Leiche. Flatterte. Die nackten Arme des Toten ruckten unter der Last des Vogels steif hin und her, so, als suchten sie ein Gleichgewicht. Norbert Kilian, der Schleusenwärter, wollte pünktlich seinen morgendlichen Dienst antreten… Er entdeckte den Leichnam, der in einer stählernen Stellage neben dem Schleusen–Eingangstor hing. Er öffnete den Mund und schrie. Der Rabe flatterte in Richtung Cranger Kirmes, um sich aus dem Müll einem fetten Happen raus zu picken. Kilian starrte weiterhin auf die Leiche. Konnte seine Augen nicht abwenden.

Fredo, der Bäckerjunge, Günter, der Metzgerssohn und Jörg, dem Sohn des Wirts vom Cranger Hof, kamen im Wettrennen auf ihren Kickboards den Weg zur Schleuse herauf. Fast hatte Fredo das Rennen gewonnen, da trat er mit dem Fuß voll auf die Bremse. Mutlos stand Norbert Kilian oben an der Schleuse. Die Jungen blinzelten in die Sonne. Brachen in Gelächter aus. Jörg zückte seine Zwille und schoss mit spitzen Steinchen auf den Leichnam. Das Gelächter verstummte. Norbert Kilian blickte die Jungen scharf an, als er den Telefonhörer langsam an sein Ohr hob und zitternd die Nummer der Polizei wählte. Es dauerte eine Weile, bis er durchkam. Umgehend kam die Streife, die in der Nähe war. Keuchend sprach er mit den Beamten, während die Kids mit den Kickboards zwischen den Budengassen verschwanden.

 

 

Fortsetzung folgt.

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Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.