Was ist noch Underground in einer Welt, wo sich jeder via Internet selbst verwirklichen kann, ja bis auf die Unterhose selbst darstellen kann? Der Begriff Underground irritiert heutzutage.
Underground-Literatur in den 1970ern bis in die 90er war Untergrund, weil kaum jemand Interesse hatte, das Zeug zu veröffentlichen oder zu vertreiben. Mit der neuen Technologie des Kopierens (sic!) wurde das Herausgeben revolutioniert. Jeder, der wollte, konnte schnell und billig seine verqueren Gedanken vervielfältigen. In den 1980ern machten das besonders die Punks mit ihren so genannten Fanzines. Hauptsächlich ging es dabei um Musik, Konzerte und den persönlichen, von allerlei Ressentiments geprägten Alltag. Einige veröffentlichten ihre eigenen Texte. Gedichte, Stories, Pamphlete. Gegen Ende den Jahrzehnts formierte sich so ein Dreigestirn der Punkliteratur: „Kopfzerschmettern“ aus Hanau, „Ikarus“ aus Mainz und „Produkt“ aus Duisburg. Dieses Dreigestirn bildete die Urzelle des späteren „Social Beat“, wovon die Macher natürlich selbst nichts wissen konnten. Die Zeitschriften wurden zumeist im Direktverkauf in Kneipen und auf Konzerten verhökert. Es begann ein regelrechter Boom an Literatur-Fanzines einzusetzen. Zeitschriften wie „Cocksucker“, „Der Störer“, „3D-Silbig“ und viele andere gesellten sich dazu. Später das „Ratriot“ und „My Choice“. Alles in allem ein buntes Sammelsurium von Menschen, die zumeist der Punkszene entstammten. Der Isabel-Rox-Verlag legte 1992 mit der Anthologie „Downtown Deutschland“ die erste Übersicht dieser sich in Entwicklung befindlichen Szene in Buchform vor. Im gleichen Jahr trafen sich anlässlich der Mainzer-Minipressen-Messe ein Großteil der Protagonisten. An einem bierseligen Abend im mehr als beschaulichen Wolfskehlen beschlossen die Versammelten, sich in Berlin zu treffen, um eine gemeinsame Zeitschrift ins Leben zu rufen. Daraus entstand ungeplant ein riesiges Treffen: Das erste Social-Beat-Literaturfestival „Töte den Affen“. Der Erfolg des Festivals war immens und resultierte nicht zuletzt aus der Verquickung einer im Westen entstandenen unkommerziellen, undogmatischen Undergroundszene mit dem Hunger der Ostler auf Selbstverwirklichung in einem liberalen Kontext- fanden die meisten Veranstaltungen doch rund um den Prenzlauer Berg statt. Am Ende waren die Westler völlig überrannt von dem Erfolg, und niemand wusste so recht, wohin der Weg führen sollte. Das eigene Ziel einer gemeinsamen Zeitschrift sollte zumindest nie umgesetzt werden.
Dafür waren noch mehr Menschen von der Idee, abseits der eingelaufenen literarischen Pfade sein eigenes Ding durchzuziehen, angefixt. Allen voran Volly Tanner und Wolfram Teufel aus Leipzig, die zusammen mit befreundeten Autor*innen die „Vergammelten Schriften“ herausgaben. Und im sonst weniger spannenden Bochum hatte ich die verrückte Idee, einen eigenen Vertrieb zu gründen, weil irgendjemand schließlich die Machwerke der Social-Beat-Bewegung unters Volk bringen musste.
Der Erfolg von „Rodneys Underground Press“ war trotzdem überraschend. In Berlin sorgte ja eine greifbare Euphorie für Auftrieb. Beim Vertrieb traf ich auf eine anonyme Masse, die nicht klar zu definieren war. Angefangen hatte alles mit einem gefalteten DIN A4-Blatt im September 1992. Außer dem mittlerweile legendären „Downtown Deutschland“ gab es kaum Bücher. Der kommerzielle Erfolg war äußerst gering, sofern überhaupt vorhanden. Darum ging es aber auch nicht. Die Idee war einfach, Literatur, die eben der Mainstream ablehnte, unters Volk zu bringen. Durch Lesungen, Flyer und Direktverkauf. Festivals in Hannover oder Darmstadt, Lesungen in Braunschweig, Göttingen oder Leverkusen zogen besonders junge Leute an, die angeödet waren vom diktatischen Gesülze, waren auf der Suche nach neuer Literatur, die sich mit ihren Problemen beschäftigten. Social Beat war in aller Munde, und es gab nicht wenige, die glaubten, dass das nächste große Ding sei. Plötzlich gab es Social-Beat-Maler, sogar SB-Möbel, was aber auch für Unmut sorgte.
Das zweite SB-Festival in Berlin-Ost entblößte schnell die Schwächen des fragilen Konstrukt Social Beat. Jetzt trafen etablierte westdeutsche Undergrounder wie Jürgen Ploog oder Kiev Stingl auf einen SB-Kern, der seine „Punktraditionen“ in Gefahr sah. Das Publikum wollte Antworten auf die zentrale Frage, was Social Beat eigentlich wollte, und sowohl die Etablierten als auch die Social Beatniks wussten es nicht. Bezeichnend dafür war eine eigens anberaumte Eröffnungsdiskussion, die mit folgendem Dialog begann:
Jürgen Ploog: „Ich bin nach Berlin gekommen wegen Kiev Stingl.“ Kiev Stingl: „Ich bin wegen Jürgen Ploog nach Berlin gekommen.“ Tom Toys: „Ich bin nach Berlin gekommen, um mich zu verlieben.“
Was sollte das Publikum davon halten? Die Zuschauerzahlen schnellten zwar noch in kaum vorstellbare Größen, im „Roten Salon“ der Volksbühne fand man selbst auf den Boden kaum Platz, das Resümee war aber zwiespältig. In den kommenden Wochen und Monaten dividierte sich folglich die Szene. Die „Traditionalisten“ blieben dabei unter sich.
Davon war bei RUP jedoch nichts zu spüren. Im Gegenteil. Es lief richtig rund. Besonders die Zeitschriften und die selbst getackerten Einzelpublikationen, die gerne in Fachkreisen auch Chapbooks genannt werden, erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Zeitkritische Texte, die für wenig Geld auf das aktuelle Geschehen eingingen, waren wohl einer der entscheidenden Gründe für den Erfolg der SB-Literatur.
Absolute Bestseller unter den Zeitschriften waren der „Cocksucker“, von dem zusammen mehrere hundert Exemplare verkauft wurden und damit die unumstrittene No 1 der Zeitschriften wohl für immer bleibt, „Der Störer“ und „Kopfzerschmettern“. Untypische Szene-Magazine wie das Art-Scum-Zine „Inside“ haben sich dagegen eher schlecht vertreiben lassen. Dafür wurden sie auf Lesungen und Messen wie verrückt gekauft. Auf erwähntem SB-Festival in Darmstadt waren vom „Inside“ bis auf ein Exemplar bereits alle mitgebrachten Hefte vergriffen, bevor es überhaupt offiziell losgegangen war. Entscheidend war auch, dass es damals kaum Konkurrenz zum gedruckten Wort gab. In Bielefeld riss das Publikum Hermann Borgerding, mit dem ich damals viele Touren zusammen durchgestanden habe, und mir die Bücher in einer so genannten Zigarettenpause aus den Händen. Selbst die zwei äußerst teuren (schlappe 30 Mark) Anthologien „Social Beat D“ und „German Trash“, die beim Galrev-Verlag erschienen sind. Wobei ich fairerweise sagen muss, dass ich sie zu meinen nicht unüblichen Dumpingpreisen angeboten hatte (die Bücher gibt es übrigens noch zu einem mittlerweile fairen Kurs zu kaufen). Das Spannende daran waren beileibe nicht die Verkaufszahlen, sondern dass die Leute damals dankbar und froh darüber waren, dass wir sie aus ihrem Alltagssumpf ein Stück weit herausgezogen haben. Ehrlich, die Leute freuten sich endlich, was anderes hören und lesen zu können, als die übliche kommerzielle Kost, die mehr und mehr den Literaturbetrieb übernahm und heute absolut dominiert.
Unter den so genannten Chapbooks ist natürlich der berüchtigte Jan Off einer, der für berauschende Verkaufszahlen sorgte. Aber gerade bei den selbst produzierten Heften sind einige Kollegen weit vorne, die heute kaum noch in Erscheinung treten oder sogar längst vergessen sind. Allen voran Andie Z., bürgerlich Andreas Schulz, ein waschechter DDR-Punk, der mit seinem kopierten Heft „Was soll´s“ selbst Jan Off auf die Plätze verweist. Dann wäre da noch ein gewisser Tuberkel Knuppertz, vor über 10 Jahren Drummer der Punkband „1. Mai 1987“, von dem ich nie genug nachbestellen konnte (oft musste ich mich zur Überbrückung von Engpässen mit Exemplaren aus meiner eigenen Sammlung behelfen, was auch der Grund ist, dass meine Sammlung heute einige Lücken aufweist). Und zu guter Letzt: Rudi Proske. Zu ihm muss ich eine kleine Geschichte erzählen. Vom Rudi erschien 1991 der Kurzgeschichtenband „Unverschämt“, der gerade mal 36 Seiten umfasste. Und zwar in Wolfgang Rügers ausgezeichneter* Bitter Lemon-Reihe. Die Auflage betrug überschaubare 100 Stück, aber jetzt kommt´s: der Einzelpreis 18,00 DM. Für damalige Verhältnisse abnorm viel und wie ich fand schon recht „unverschämt“ (*eben abgesehen vom Preis), was ich auch in der Beschreibung erwähnte – wohlgemerkt, es handelte sich dabei um ein Heft. Ich war also von vornherein davon ausgegangen, dass ich nur wenige Exemplare verkaufe. Am Ende waren es aber 18 Stück oder anders ausgedrückt 18 % der Gesamtauflage. Obwohl Rudi damals zu den absoluten Rennern gehörte, fand ich das extrem viel.
Und genau die selbst kopierten, getackerten Zeitschriften und Hefte haben dafür gesorgt, dass RUP über den Niedergang des Social Beat Ende der 1990er hinaus so lange ausgehalten hat. Und seine Verwurzelung im Punk.
In der zweiten Dekade der 1990er stellte eine Zeitschrift nach der anderen sein Erscheinen ein. Der Slam Poetry verdrängte zusehends die Lesungen, das Publikum wollte Action, wollte Party und nicht mehr bloß Zuhören. Um das Jahr 2000 wandt ich mich deshalb wieder verstärkt der Punkszene zu, inserierte fleißig in Zeitschriften wie Plastic Bomb und Ox, die es mittlerweile in jedem gut sortierten Bahnhofskiosk gibt. Und traf wieder völlig unerwartet auf ungeheure Resonanz, so gewaltig, dass sich daraus eine neue Punkliteraturszene entwickelte, die ihren Höhepunkt in den hervorragenden Zines „Vorsicht Schreie“ und „Straßenfeger“ fand.
Doch trotz der unerwarteten Resonanz der jungen Punks geriet RUP immer mehr ins Schlingern, und gerade Jan Off und Andie Z. verdeutlichten das Dilemma. Konnte ich wie gesagt ihre Chapbooks nicht oft genug nachbestellen, verkaufte ich von ihren gedruckten Büchern, die ab dem Jahr 2000 ebenfalls mehr und mehr die Publikationen dominierten, nur noch einzelne Exemplare. Bei Jan Off waren es natürlich ein paar mehr, aber auch er kam bei weitem nicht an die Verkaufszahlen seiner Hefte heran. Bücher an sich waren nicht das Problem. Wie viele Exemplare des legendären „Downtown Downtown“ und seines Nachfolgers „Asphalt Beat“ durch meine Hände gingen, kann ich beim besten Willen nicht sagen (die Gesamtauflagen beider Bücher liegen schließlich auch im vierstelligen Bereich). Auch mein erster Gedichtband „Blues im Morgenmantel“ hat sich ordentlich verkauft . Nur mit dem massenhaften Drucken von Büchern, auch dank der digitalen Billigvariante und der einhergehenden Vermarktung gerade durch das Internet, geriet RUP mehr und mehr ins Hintertreffen.
In der Zwischenzeit haben uns die eingängigen Vertriebe, um sie mal so zu bezeichnen, und auch die mittlerweile gut ausgebauten Punkmailorders die Kundschaft weitestgehend weggeschnappt. Selbst bei den meisten Verlagen gibt es die Möglichkeit, die verlagseigenen Publikationen portofrei zu bestellen. Auch den jungen Punks geht zunehmend die Puste aus, so dass in letzter Zeit nur noch selten eine neue Nummer erscheint. Von daher macht es eigentlich immer weniger Sinn, einen Vertrieb für Undergroundliteratur zu betreiben. Trotzdem bleibt RUP als Anlaufstelle erhalten, eben für die absoluten Freaks, die auch mal in den Old-School-Bereich der Underground-Literatur eintauchen wollen. RUP wird weiter DIY bzw. wirkliche Nischenprodukte vertreiben. Schließlich werkeln einige der alten Traditionalisten fleißig an einer recht professionell herausgegebenen Zeitschrift namens „Maulhure“. Und so wie es im Moment aussieht wird RUP zusätzlich zum Verlag mutieren, um eben Chapbooks in Eigenregie zu produzieren. Also es heißt, weiter beobachten unter www.undergroundpress.de und nicht bei Amazon Halt machen.
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