Der Nervenschwache

 

Mit einer Stirn, die Traum und Angst zerfraßen,

Mit einem Körper, der verzweifelt hängt

An einem Seile, das ein Teufel schwenkt,

– So läuft er durch die langen Großstadtstraßen.

 

Verschweinte Kerle, die die Straße kehren,

Verkohlen ihn; schon gröhlt er arienhaft:

„Ja, ja – ja, ja! Die Leute haben Kraft!

Mir wird ja nie, ja nie ein Weib gebären

 

Mir je ein Kind!“ Der Mond liegt wie ein Schleim

Auf ungeheuer nachtendem Velours.

Die Sterne zucken zart wie Embryos

An einer unsichtbaren Nabelschnur.

 

Die Dirnen züngeln im geschlossnen Munde,

Die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben.

Ihn ängsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben,

Zuhältermesser und die großen Hunde.

 

 

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Die Strassen komme ich entlang geweht, Gedichte von Ernst Blass. Heidelberg: Weissbach 1912 – KUNO empfiehlt die verdienstvolle Gesamtausgabe in der Edition Memoria

Wer die expressionistische Gedichtesammlung „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Punthus kennt, der wird dort den Namen Ernst Blass leider vergebens suchen. Auch wenn dort viele großartige Expressionisten berücksichtigt wurden, fehlt dieser leider zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dichter dort gänzlich. Blass hat mit seinem expressionistischen Gedichtband Die Straßen komme ich entlang geweht das Leben in der modernen Großstadt in all seinen Facetten in die deutsche Lyrik eingeführt. Angefangen von den Verkehrsmitteln über die vielen Vergnügungen bis hin zu den Lebensrhythmen in einer modernen Metropole. Seinem Wechsel zu einem neoklassischen Stil unter dem Einfluss des George-Kreises in Heidelberg begegneten seine Berliner Freunde mit Reserve. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fand er in seiner Lyrik dann aber Anschluss an die Strömung der Neuen Sachlichkeit. Ungewöhnlich ist, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg als bedeutender Autor des Frühexpressionismus kaum mehr zur Kenntnis genommen wurde.

Weiterführend → Sein poetologisches Programm beschreibt Ernst Blass in einem Essay.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.