In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht.
Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht;
Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun.
Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun.
Die andern kehren wieder, unterhalten sich
Mit meinem Schrein und Stöhnen, lachen über mich,
Sie recken mir die Arme gewaltsam, nennen’s Sport.
Ich breche in die Knie … und endlich gehn sie fort.
Ich sah nicht Bäume, Sonne – ob es die wirklich gibt?
Ob wo ein armes Kind noch seinen Vater liebt?
Kein Zeichen mehr, kein Brief – und ich habe doch eine Frau!
Sie sagten: »Du bist rot; wir schlagen dich braun und blau.«
Sie peitschten mit stählernen Ruten und mein Rumpf war bloß …
O Gott! O Gott! Nein, nein! Ich bin ja glaubenslos,
Ich habe nicht gebetet im Felde, im Lazarett,
Nur abends als kleiner Junge, und die Mutter saß am Bett.
Die Erde ist Kerkergruft, der Himmel ein blaues Loch.
Hörst du, ich leugne dich! Mein Gott… ach, hilf mir doch!
Du bist nicht: wenn du wärst, erbarmtest du dich mein.
Jesus litt für euch alle; ich leide für mich allein.
Ich steh‘ und sinke ein bei Wasser und wenig Brot
Stunden und aber Stunden. Wie gut, wie gut ist der Tod!
Hingelegt… und verschlossen in tiefem, dunklem Schacht
Keine grelle Lampe. Nur Schlaf. Nur Stille. Nacht…
***
1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar. Das Pseudonym erklärt sich aus der Herkunft ihres Familiennamens von der Stadt Chodziesen in der damaligen preußischen Provinz Posen, die 1878 in Kolmar umbenannt worden war. Ab Ende der 1920er-Jahre erschienen einzelne ihrer Gedichte in literarischen Zeitschriften und Anthologien. 1934 wurde ihr zweiter Gedichtband Preußische Wappen im Verlag Die Rabenpresse von Victor Otto Stomps publiziert. Diese Veröffentlichung brachte den Verlag auf eine Liste unerwünschter Verlage des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, von dem er dann boykottiert wurde. Kolmar durfte ab 1936 nicht mehr unter ihrem Künstlernamen publizieren, sondern nur noch unter ihrem Familiennamen Chodziesner.
Ihr dritter Gedichtband Die Frau und die Tiere, der im August 1938 im Verlag Erwin Löwe erschien, wurde nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 in Zusammenhang mit der Auflösung der jüdischen Buchverlage verramscht. Die Familie Chodziesner wurde infolge der verschärften Verfolgung der jüdischen Bevölkerung noch im November 1938 zum Verkauf ihres Hauses in Finkenkrug und zum Umzug in eine Etagenwohnung in einem sogenannten „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg gezwungen.
Ab Juli 1941 musste Gertrud Kolmar Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten. Ihr Vater wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und starb dort im Februar 1943. Gertrud Kolmar wurde am 27. Februar 1943 im Verlauf der Fabrikaktion verhaftet und am 2. März 1943 im 32. sogenannten Osttransport des RSHA ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Von den etwa 1500 Berliner Jüdinnen und Juden, die in diesem Zug am 3. März 1943 in Auschwitz ankamen, wurden nach der Selektion an der ‚Alten Rampe‘ 535 Männer und 145 Frauen als „arbeitsfähige“ Häftlinge registriert und in das Lager eingewiesen. Die übrigen etwa 820 Deportierten dieses Zuges, darunter Gertrud Kolmar, wurden nicht als Häftlinge registriert und vermutlich sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet.
Gertrud Kolmar, von deren Werk zu Lebzeiten relativ wenig erschien, gilt heute als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Nach eher konventionellen Anfängen fand sie in ihren Gedichten vor allem ab Ende der Zwanzigerjahre zu einem eigenen, unverkennbaren Ton, geprägt von großer sprachlicher Virtuosität und Expressivität, unter gleichzeitiger Beibehaltung traditioneller Formen. In ihrem Werk herrschen Natur- und Frauenthemen vor, oft ins Mystische und Hymnische gesteigert.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.