Mit Hinweis auf neurobiologische Forschungen erklärt Harald Welzer, dass dem menschlichen Gedächtnis ein aktiver mentaler Prozess zugrunde liegt, der weitgehend unbewusst und „implizit“ funktioniert. Das menschliche Gedächtnis hat eine soziale Funktion: In unterschiedlichen Gedächtnis-Funktionen organisiert sich das Wechselspiel von Individualität und Gemeinschaft. Populäre Metaphern, die das Gedächtnis als Wissens-Speicher mit einer Computer-Festplatte vergleichen, führen in die Irre. Erinnerungs-Bilder sind nicht als fertige Datensätze an einer bestimmten Stelle des Gehirns abgespeichert. Das Gehirn muss, wenn es Erinnerung aktivieren will, aus verschiedenen Arealen Elemente rekonstruieren. Bei jedem Abrufen einer Erinnerung werden assoziativ neue Netzwerke gebildet. Die Erinnerungsfragmente von Medien-Erlebnissen werden grundsätzlich genauso behandelt wie die Fragmente „erlebter“ Erinnerung. Bei der Rekonstruktion von Erinnerung vermischen sich die Quellen.
Auch das autobiographische Gedächtnis ist wesentlich kommunikativ, es stellt sich über „Interaktionssituationen“ her, formuliert Welzer. „Wie man Ich wird“ ist dem Menschen natürlich nicht bewusst. Nicht-bewusste Erinnerungen tauchen in „Bauchgefühlen“, spontanen Reaktionen und unerklärlicher Voreingenommenheit auf. Von Emotionen und den Signalen der nonverbalen Kommunikation „weiß“ mein Gehirn deutlich mehr, als über das semantische und das episodische Gedächtnis bewusst ist. Die bewussten wie die unbewussten Elemente des Gedächtnisses sind kommunikativ und lenken unser Wahrnehmen und Handeln im Kontext der Kultur der Gemeinschaft. Aus der Ich- und Wir-Identität im Sinne eines „autobiographischen Gedächtnisses“ entwickelt sich eine Synchronisierung des Individuums im Verhältnis zu seiner sozialen Umwelt.
Das kommunikative Gedächtnis, von Harald Welzer, 2002