VorBild

 

Dichtung werde von allen gemacht, betonte Lautréamont. Es gibt wenige Thesen über Lyrik, die ich im Verlauf der Beschäftigung mit Gedichten höher einzustufen gelernt habe als diese. Wir schreiben gemeinsam an dem einen Gedicht, das sich aus den vielen Versen zusammenfügt, die die Dichter freigelassen haben, damit sie sich im Leser vollenden (wobei sich die Namen der ursprünglichen Verfasser bei mir beispielsweise mehr und mehr verflüchtigen: Auf das Gedicht kommt es an). In diesem Künstlerbuch schreiben nun zum zweitenmal 19 Dichterinnen und Dichter mit der Hand an dem einen Gedicht, das diesmal den Obertitel VorBild trägt. Die wenigsten werden, wie Elisabeth Alexander, eigens ein neues Gedicht für diese Sammlung verfaßt haben, und doch – wenn wir ein wenig mit dem Wort Vorbild zu spielen beginnen (wie Karl-Friedrich Hacker in seinem Linoldruck „Vorm Bild“), stellen wir schnell fest, daß sich alle hier versammelten Texte und Bilder mühelos mit diesem Wort assoziieren lassen – ob mehr als Urbild, Spiegelbild, Bild oder Vorbild sei dahingestellt. Einer, den ich gern zum Mitschreiben eingeladen hätte, ist der früh verstorbene Christoph Derschau (1938-1995), der uns beispielsweise die folgenden Verse hinterlassen hat, die so wunderbar in Wörter sind Wind in Wolken, die erste handgeschriebene Anthologie unserer lyrischen Reihe, gepaßt hätten:

Ich schreib es auf das
Gedicht vom Wind und
aaaaaaaaaaaaaaaaader Wind
bläst es mir davon…

Und wäre er diesmal dabei gewesen, hätte er sich an Jan Röhnerts Gedicht „Die Sonnenblume“ besonders erfreuen können, denn Derschau klagt in „Saarbrücken – Stuttgart am 29.8.1975“ (im posthum neu aufgelegten Sammelband So hin und wieder die eigene Haut ritzen, Maro 1999):

Sonnenblumen.
Warum besingen wir so selten
die Sonnenblumen?

Mit den handgeschriebenen Gedichten erhielten wir eine Reihe interessanter Begleittexte; Thomas Glatz schreibt:

Meine Gedichte entstehen aus dem unmittelbaren Wahrnehmen sowie Dingen und Worten, die ich im Kopf mit mir herumschleppe. Also nicht unmittelbar Lyrik als Vorbild wie bei Dir. Wenn ich Gedichte schreibe oder zeichne, dann häufig beidhändig. Diese Arbeitsmethode habe ich mal aus Jux in einem Zeichenkurs bei Sascha Kolenc ausprobiert. Ich habe angefangen, alles synchron mit einem Stift in der linken und einem in der rechten Hand zu zeichnen. Später habe ich auch Worte und Textfragmente in die Zeichnungen geschrieben und kam so zum beidhändigen Schreiben. Die Rechte schreibt deutlich, die Linke krakelt synchron mit. Die Überwachungsinstanz „Schere im Kopf“ wird überlistet, die Assoziationen werden freier. Später las ich in E. Gillens Katalog Deutschlandbilder, daß auch Carlfriedrich Claus, der großartige ostdeutsche Grafiker, beidhändig schrieb und Textgrafiken, visuelle Poesie, Textbilder anfertigte. Auch Paul Klee scheint beidhändig gezeichnet zu haben. Nach dem beidhändigen Schreibprozeß erfolgt bei mir ein zweiter Schritt: Textarchäologie. Ich schreibe das beidhändige Gekrakel ins reine. Auch dies ein poetischer Akt. Ich hatte mir schon überlegt, Euch beidhändig Geschriebenes für die Anthologie zu schicken, aber wie gesagt: Gekrakel! Leider werden es keine schönen Textgrafiken wie bei Claus. Manchmal kann ich ein Wort nicht lesen, und ein anderes rückt an dessen Stelle. Der Text wird dadurch eigenartiger, manchmal surrealer, glücklichenfalls poetischer. Als Vorbild für meine, zunächst beidhändig verfaßten und dann mit der Rechten ins reine geschriebenen Texte habe ich die literarische Figur der Auguste Bolte von Kurt Schwitters auserkoren. Auguste Bolte wird von einer Diebesgruppe die Handtasche gestohlen. Sie muß sich entscheiden, ob sie den nach links oder den nach rechts türmenden Teil der Gruppe verfolgt. Wenn ich beidhändig schreibe oder zeichne, komme ich mir auch oft ein wenig wie die hin- und hergerissene Auguste Bolte vor.

Lassen Sie sich auch hin- und herreißen zwischen den rechts- und linkshändig verfertigten Gedichten und Bildern, die uns dieses Künstlerbuch vorstellt. Hans Bender schrieb nach Erhalt von Wörter sind Wind in Wolken, daß er das Buch immer wieder in die Hand nehme, und zwar beim wiederholten Male weniger, um die Gedichte zu lesen, sondern die einzelnen – naturgemäß sehr verschiedenen – Autographen auf sich wirken zu lassen.

 

 

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VorBild, Theo Breuer (Hg.), Edition Bauwagen 2001

Zweite handgeschriebene Anthologie mit Gedichten von Elisabeth Alexander, Karlheinz Barwasser, Ewa Boura, Theo Breuer, Joseph Buhl, Manfred Enzensperger, Thomas Glatz, Harald Gröhler, Anna Gudera, Karin Kinast, Matthias Kehle, Alma Larsen, Jan Röhnert, Walle Sayer, Jörg Seifert, Raphael Urweider, Jürgen Völkert-Marten, Jan Wagner und David Stone sowie originalen Graphiken von Karl-Friedrich Hacker, Bernd Reichert und Jörg Seifert, Vorwort von Theo Breuer, lyrischer Essay von Joseph Buhl, 75 Blätter.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.