Das Jägerzimmer – Sammlung und Refugium – ist das frühere Kinderzimmer der Dreizimmerwohnung im Döllnitzer Weg 2, Halle-Süd, wo Usch dreiundsechzig Jahre lang lebte. Als Susanne auszog, die Tochter, um sich von der Enge und den elterlichen Zwängen zu befreien, schuf sich Usch ein Reich, wo sie ihre Schallplatten, Musikkassetten und CDs auflegen, Bücher lesen und Briefe schreiben konnte, während Gerhard im zur Straße gelegenen Wohnzimmer die Sportsendungen im Fernsehen verfolgte. Ein Besucher, der die Tür von der Küche zum Jägerzimmer zum ersten Mal öffnet, glaubt seinen Augen kaum, so radikal wird seine Erwartung enttäuscht. Er steht erst einmal starr. Dann wird ihm klar, er blickt zwar nicht in einen Wald, aber es ist mehr als die Atmosphäre des Waldes ins Zimmer hineingewachsen. Von der gegenüberliegenden Wand scheinen kapitale Hirsche auf ihn zuzulaufen, mittendrin ein Zwölfender. An der Wand rechts hängen ein Dutzend Rehkronen, und links weitere Geweihe. Dazwischen ein Jagdgewehr, eine Schrotflinte mit Pulverdose und Pulverlöffel, ein Treiberstock, eine Jagdtasche, ein Jagdsitzstock, Patronengürtel mit Geschosshülsen … über der Tür rechts, die zum Schlafzimmer führt, ein Hufeisen, Beschützer der Schlafenden. An der Decke hängt ein Geweihlüster aus drei Gehörnen, die eine an Schnüren aufgehängte bernsteinfarbene Glaskugel tragen, in deren Innerem Glühbirnen leuchten. Auf dem Boden ein Bärenfell, ohne Kopf, auf den aus Weiden geflochtenen Hockern kleine Felle vom Dachs und Luchs, am Kopfende der Chaiselongue ein Fuchsfell und ihr zu Füßen ein Eisbärenfell. Nun entdecken die Augen an den Wänden über den Regalen noch einen Gobelin mit Waldvögeln, über der Kommode ein Treibjagd-Gemälde, einen Ridinger-Kupferstich mit einem Reiter auf einem sich aufbäumenden Schimmel. Zwischen den Bildern ein Trinkhorn, eine pelzbesetzte Trinkflasche, eine Taschenuhr mit einem Eber auf dem Silberdeckel, eine große Schützenscheibe mit Hirschkopf … An der Wand neben der Schlafzimmertür ist eine Gamshorngarderobe befestigt. Daneben hängt ein Feldstecher. An die Kommode angelehnt ein hölzerner Spazierstock mit elfenbeinernem Löwenkopf als Knauf, und ein Fischerkorb von der Insel Usedom. Auf der Kommode ein Jägerfilzhut mit Gamsbart, eine Meerschaumpfeife, eine Tiroler Schnupftabakdose, ein Zigarrenetui aus Krokodilsleder, ein Zinnaschenbecher mit Schlangenrand. Aufgehängt an einem Eisengestell ein großer Hirschfänger mit Stahlklinge. Auf der Kommode eine Standuhr mit Tiermotiven, darüber an der Wand ein veritables Ölgemälde von Viktor Pucinsky: Fasanen in Winterlandschaft. Neben dem Fenster, das den Blick in den Garten freigibt, eine tschechische Kuckucksuhr. Auf dem Tisch, der sich in der Nähe der großen Hirschgeweihe befindet, steht das Prunkstück der Künste, ein Wildschweinkeiler aus Carrara-Marmor, dem nur das Nilpferd aus Serpentinstein, das auf einem Schränkchen beim Fenster steht, Konkurrenz bietet. Auf dem Tisch ein Diana-Schreibset mit einem Brieföffner, dessen Griff eine fliegende Wildgans darstellt, davor die Erika-Schreibmaschine …
Aber das ist noch längst nicht alles, was das vielleicht zwölf Quadratmeter große Zimmer, zu bieten hat. In den Regalen, auf der Kommode und in den Schubladen steht und liegt noch eine eigene Welt der kleinen Dinge: Hühnergötter, ein Seepferdchen und Seesterne von Hiddensee, eine Gehörnsäge, eine Lockflöte, ein Jagdtaschenmesser von Lindley/London … Im Regal neben der Kommode Bierkrüge mit Jagdmotiven und ein silberner Flachmann, Wildschweinzähne, Schützenmedaillen, Korkenzieher mit Horngriff, Flaschenstöpsel, Hirschhorn-Flaschenöffner. Oben auf dem Regal steht die Bronze eines Jägers mit angelegtem Gewehr. Im Bücherregal stehen seltene, meist alte Jagdbücher. „Kunst des Schießens mit der Büchse“, „Neue Wege der Hege“, „Der deutsche Jäger“, „Abrichten und Führen des Jagdhunds“ … Und auf der Puppenvitrine neben der Chaiselongue thront über allem ein ausgestopfter Auerhahn.
Nachts, wenn Uschs Jägerwald zur Ruhe kommt und der Vollmond, der über dem Apfelbaum im Garten steht, durchs Fenster scheint, bewegen sich auf einmal die Tasten der Erika, und die Typenhebel schlagen die Buchstaben auf den immer eingespannten Papierbogen, so sanft und leise, damit es Usch nicht hört, und die Schreibwalze dreht sich von Zeile zu Zeile. Dann beginnen die Dinge im Zimmer zu summen, leise leise, damit Usch nicht aufwacht. Sie singen alle im Chor, die im Mondlicht verzauberten Dinge, langsam wächst ein weltliches Oratorium der Liebe hinauf zur Zimmerdecke, es ist ein Zwiegesang der politischen Liebe mit der Männer-und-Frauenliebe in strahlend-rotem Dur. Die großen Hirschgeweihe bilden mit ihren Bass-Stimmen das Fundament, und darüber erheben sich im Sopran die Rehkronen, während die ganzen Jagdutensilien das Orchester bilden. Auch die Bilder singen mit, dabei leuchten sie leicht auf. Und die Puppen? Sie fallen ein in den Gesang, wenn die Tripelfuge an die Reihe kommt. Und der Text wächst während des Gesangs. Manchmal ist es ein Gedicht, manchmal ein Brief. Aber das alles geschieht nur bei Vollmond und bleibt geheim. Nur dem Verfasser dieser Zeilen haben sich die Dinge anvertraut, der darf es nicht verraten, solange Usch lebt. So groß ist die Liebe! Sie genügt sich selbst, weil sie so selbstverständlich ist denen, die wirklich lieben. Wenn Usch am nächsten Morgen das Jägerzimmer betritt, um dort zu frühstücken, sieht sie den beschriebenen Papierbogen in der Erika. Und denkt: Ach, ich vergaß gestern meinen Brief an Hannelore aus der Maschine zu nehmen. Dann nimmt sie den Brief, steckt ihn in einen Umschlag, adressiert ihn, klebt die Briefmarke darauf, legt ihn auf den Spiegeltisch in der Diele – und dann ist alles wieder in Ordnung.
Was will Usch mit allen diesen Dingen, und wieso sammelt sie ausgerechnet Utensilien der Jagd, die einst ein Privileg des Adels war? Wie verträgt sich das mit ihrem roten Herzen?
„Mein Jägerzimmer gehört zu mir“, sagt Usch, „wie mein Herz, das für das Volk schlägt und für den Sozialismus, da könnt ihr euch auf den Kopf stellen – die Jägerei, die heiligen Berge und der Wald, überhaupt die Natur, das liebte ich schon als Kind. Ich weiß, ihr seht da einen Widerspruch. Aber da ist keiner, wenn ihr genauer hinseht. Der ganze Jagdkram in meinem Zimmer, in dem ich Mozart und Beethoven höre oder Die Moldau, Karat oder die Puhdys, wo ich lese und schreibe, hat nichts zu tun mit konterrevolutionären Ideen. Mein Zimmer ist ein Museum der Gemütlichkeit. Das könnt ihr auch gerne ironisch sehen. Schlimm sind doch die Hobbykeller, wo sich einer eine Westbar einrichtet mit lauter leeren Cola-Dosen, Bierflaschen aus dem Westen, Werbematerial und Markenkram, das ist doch peinlich. Ich bin weder mit dem Westen noch mit dem Osten verheiratet. Das Jägerzimmer, das bin ich, das bin einfach ich selbst, ohne alle Ideologie. Das ist mein individuelles, ganz privates Vergnügen, meine Oase, mein Ausruhpunkt. Da kann ich spinnen, wie ich will, und das ist kein Verrat an der richtigen Lebensperspektive … Ihr kennt vielleicht die Legende des St. Hubertus. Die erzähle ich euch gleich, und meine Version dazu. Ich bin ja in Bochum evangelisch aufgewachsen, die meisten Westfalen sind katholisch, und von denen habe ich eine ganze Reihe von Legenden erfahren, die sind zum Teil richtig lustig. Der heilige Hubertus, Patron der Jäger, war ein Bischof im Mittelalter, der wie so mancher Bischof zugleich ein weltlicher Herrscher war, ein Adliger also, der Saus und Braus liebte und die Jagd. Der begegnete einmal einem gewaltigen Hirsch, der trug zwischen seinen Geweihstangen ein Kreuz. Man fragt sich natürlich, wo der das herhatte, das Kreuz. Nicht so der Hubert, der sah das Kreuz als Zeichen, das ihm Gott sandte, ging in sich und wurde ein Heiliger. Und so ähnlich erging es mir in meinem Leben, als ich erwachsen wurde. Da erkannte ich, dass ich nicht weiterleben kann wie ein Kind. Da ist mir im Wald meiner Gedanken auch so ein Hirsch begegnet, aber der trug kein Kreuz, sondern über seinem Haupt leuchtete ein roter Stern! So war das. Eigentlich ganz einfach. Und so bin ich innerlich schon früh aus der Kirche ausgetreten und habe meinen Janus nicht taufen lassen wollen – das hat aber meine Schwiegermutter heimlich in die Wege geleitet, ich habe das erst hinterher rausgekriegt. Jedenfalls erscheint mir der rote Stern politisch vernünftiger als das Kreuz. Allerdings habe ich nichts gegen die Nächstenliebe, im Gegenteil. Die Nächstenliebe ist ja geradezu die Hauptsache im Kommunismus. … Naja, im Unterschied zum St. Hubertus bin ich keine Heilige.“
In diesem Zimmer, einer eigenwilligen und bewusst skurrilen Nachbildung eines Reichs, in dem nicht die Göttin Diana regiert, sondern gleichsam ihre säkulare Version, die Keyserowa, steht, umgeben von allen diesen Sammlertrophäen, die der Betrachter kaum wahrzunehmen in der Lage ist, in einer abends erleuchteten, hoch aufragenden gläsernen Vitrine, der wahre Mittelpunkt der musealen Komposition: Uschs Puppensammlung. Die Puppen hat Usch in allen Ländern und Regionen, die sie mit Gerhard bereiste, erworben – die Hexen vom Hexentanzplatz im Harz, die Goethe, der als Playmobilfigur vertreten ist, auf dem Brocken angesiedelt hat. Im Innern der Vitrine stehen die Halloren, die erzgebirgischen Kurrende-Sänger, ein Torero aus Spanien, eine Mazurka-Tänzerin aus Polen, Trachtenpüppchen aus Tschechien, Ungarn, Russland, ein Zauberer, eine Fee, ein Erlkönig … und man sieht Aladin, Schneewittchen und die sieben Zwerge … in einer Ecke steht ein schwarz lackierter Don Quixote aus Eisen, ihm gegenüber Lohengrin und der Schwan, in einer anderen Etage der Vitrine sehen wir den hölzernen Pinocchio mit der langen Nase, einen Engel, einen Dinosaurier, Frankenstein, ein Barbiegirl, einen Schornsteinfeger mit Leiter, einen Tiroler Jäger mit Gewehr … und so findet die Puppenwelt ein Bindeglied zur Jagdwelt … So herrscht eine bunte Vielfalt von Kulturen, Fiktionen und Farben. In der obersten Etage, dem Himmel am nächsten, sind Schneekugeln, auch Halbkugeln, aufgereiht: Da steht die Eiskönigin, ein Schneemann, Schloss Neuschwanstein, da ist die sinkende Titanic, ein Einhorn, ein Segelschiff und eine halb geschälte krumme Banane, als wäre sie der Halbmond … Wenn die Kugel geschüttelt wird, fällt Schnee in wirbelnden Flocken. Es ist wie in der Wirklichkeit, erzählt Usch, wenn man sie schüttelt, fällt Schnee, und manche meinen ja allen Ernstes, das weiße Material, das vom Himmel fällt, sei Konfetti. Aber in Wahrheit bröckelt die kosmische Architektur, denn den Himmel haben unsere Vorfahren in Urzeiten gebaut, das Wissen ist schon lange verlorengegangen. Das Konfetti kommt durch das Loch am Himmelsgewölbe, durch das die Götter früher kleinere und größere Steine warfen, um böse Menschen zu bestrafen. Und so konnten auch die Totenseelen in ihre himmlische Lichtheimat fliegen. Aber heute, wo es keine bösen Menschen mehr gibt, jedenfalls da, wo der Sozialismus gesiegt hat, gibt es das Loch nicht mehr, weil die Menschen daran nicht mehr glauben. Und das ist gut. So einfach ist das mit der Wirklichkeit.
***
Usch von Ulrich Bergmann, Free Pen Verlag 2022
Weiterführend →
Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.