baumharzeule und giraffenküken    

oder: gelüftet wird noch

zur fotografie von jutta gampe

über fotografien zu schreiben erfordert, über wahrnehmungen nachzudenken. fotografien können beleben, töten und wiederbeleben. sie sind, dem licht erloschener sterne gleich, reflexe von gewesenem, teleskope bilden nicht mehr existierende materie ab, momentaufnahmen von ereignissen, personen und gegenständen, die, wie im bernstein eingeschlossene insekten oder pflanzen, als bild bewahrt bleiben, dokumente des vergänglichen, verschwundenen, verlorenen, dessen visuelle verlebendigung sie zugleich ermöglichen, vermittler zwischen außenwelt und innenwelt, realleben und phantasie, demontage der wirklichkeit, ästhetische gegenwelt, reliquien, beutedokumente, waffen. schauen wir, wieviel davon sich bei jutta gampe findet.

susan sontag zitierte den amerikanischen fotografen minor white mit dem satz: »In Gedanken fotografiere ich ständig alles – zur Übung.« entstanden sind die fotografien und fotokompositionen, die von der fotografin für ausstellungen unter tausenden fotos ausgewählt wurden, seit 2012. die kompositionen verbinden jeweils mehrere fotos mit verwandten motiven, strukturen, formen und farben, die miteinander harmonieren und/oder kontraste bilden und durch deren abfolge eine melodische und rhythmische ordnung entsteht, die nach musikalischen prinzipien komponiert scheint. lateinisch com-pōnere heißt zusammensetzen, gestalten, ordnen, aufbewahren, vereinigen, spätlateinisch komponieren, zur harmonie, zum einklang fügen. der fotoapparat wurde mit einem musikinstrument verglichen. die zusammenstellung der fotografien, weniger nach themen, sondern nach motiven, ist dann eine auswahl der auswahl der auswahl. zuerst wählt sie die besten unter den entstandenen fotografien aus, dann die motive und schließlich deren arrangement.

diese fotos leben vor allem durch strukturen und formen, für die jutta gampe einen genauen blick hat. rudolf arnheim bemerkte, daß ein bild keine botschaft vermitteln könne, wenn es nicht primär eine form aufweise. die gestaltung des wahrgenommenen, das kenntlich werden soll, verlangt eine sprache, hier die bildsprache der fotografie. kunst wird in ihrer entstehung zur form, eine fotografie im bruchteil einer sekunde, sofern der fotograf sie nicht bearbeitet, und wirkt beim betrachter als form. so kann sie auch wohlklang und ruhe vermitteln und zur muße einladen. der amerikanische fotograf clarence john laughlin schrieb: »Der kreative Fotograf macht die menschlichen Inhalte der Objekte sichtbar und verleiht der unmenschlichen Welt, in der er lebt, Menschlichkeit.«

susan sontag attestierte den europäischen kulturen die vorstellung, schönheit wohne weniger in den dingen selbst, sondern offenbare sich durch eine besondere sehweise. charles baudelaire meinte: »Die Erforschung des Schönen ist ein Duell, bei dem der Künstler vor Angst schreit, bevor er besiegt wird.« seelisch verwundete menschen kann schönheit, durch den gegensatz zum eigenen empfinden, zusätzlich peinigen. hoffnung ist vielfach mit angst verbunden. und neues erlebt man oft zuerst als schrecken. wer angst und schrecken ausweicht, wird kaum kreativ sein können. das künstlerisch schöne hat in der tiefe immer etwas schmerzhaftes. sonst bleibt es oberflächlich.

jutta gampe, die auch malt, zeichnet und gedichte schreibt, sucht die motive ihrer fotos nicht in postkartenwelten, sondern abseits des vorgeprägten schönen scheins, meist, ausgehend von calbe an der saale und ihrem atelier mit teichblick, das einem baumhaus ähnelt, in ihrer unmittelbaren lebensumgebung. ihre fotografien, andere entstanden in england, italien und portugal, sollen nicht vordergründig an erlebnisse und ereignisse erinnern, also nicht dokumentarisch sein. sie entdeckt vielmehr phänomene der natur und der menschenwelt, in landschaften ebenso wie an und in gebäuden, ja selbst ruinen. ihre fotos von architektur sind nicht traditioneller art. für das panoramaartig und fassadenhaft beeindruckende imponierender bauwerke interessiert sie sich kaum.

manche fotografien zeigen verfallenes, verrostetes, verwittertes und verrottetes, das gemeinhin als häßlich gilt, von ihr jedoch ästhetisch aufgehoben zum motiv ihrer kunst wird. auf einigen fotokompositionen sieht man unbewohnbar gewordene landschaften mit flächen und schichten stillgelegter braunkohlentagebaue sowie maulwurfsartigen haufen aus tagebauabfällen. indem sie spuren von verwundungen zeigt, hier der natur, bewahrt sie das versehrte im bild, worin man eine künstlerische errettung sehen kann, in die sie auch die dingwelt einbezieht.

luis buñuel sagte auf die frage, warum er filme drehe: »Um zu zeigen, daß dies nicht die beste aller Welten ist.« die fotografien von und in ruinen, die ja nicht im herkömmlich sinne fotogen wirken, sind natürlich erst recht keine architekturfotografie, die bauwerke in ihrer schönheit fotografisch nachbildet, sondern mehr zertrümmerungen der kunst der klassischen moderne nahe. das interesse an beschädigten dingen verweist auf beschädigte menschen. jutta gampe fotografiert keine panoramen von außen, sondern eher ruinen von innen, technikwelten statt körperwelten, metalle und steine anstelle von schädeln und häuten, sozusagen die schrumpfköpfe der industrie. ihre fotografien betonen das elementare zurückgelassener industrie. schrott kann das wesen der technik offenbaren wie der totenschädel die gesichtsform eines menschen. indem sie ruinen und schrott, also lebensreal unbrauchbar gewordene gebäude und technik, fotografisch neu gestaltet, bewahrt sie etwas wesentliches davon. kurt schwitters machte abfälle zu bausteinen seiner kunst, indem er etwa scherben neu zusammenfügte.

die ruinenfotos entstanden in einer früheren papierfabrik, kohlehandlung, elektrowerkstatt und verlassenen villa. sie zeigen, indem sie verstreute bruchstücke menschlicher arbeit fotografisch einfangen, menschenwerk statt menschenpark. eine fotografie, die eine fabrikruine mit geöffneten fenstern zeigt, nannte ich »Gelüftet wird noch«. auf einer andern sieht man durch zerbrochene fenster auf einen turm. teilweise waren die ruinen, so werkhallen und werkstätten, derart verfallen, daß ihr betreten mit einem risiko verbunden sein konnte und die fotografin damit rechnen mußte, unheimlichen und unheiligen, also unerwünschten, tieren zu begegnen. maschinen, werkzeuge, werkstücke und materialien werden im zustand ihres verlorenheit gezeigt. die meisten menschen, beschädigt von kindheit an, müssen ruinen und schrott, auch in ihrer seele, wegräumen. manche gestalten sie künstlerisch, bevor sie, wenns gelingt, wieder halbwegs so unbeschwert und unbefangen wie als kind kreativ sein können.

frühere kulturen setzten körper, haus und kosmos gleich. haus und haut sind etymologisch verwandte worte. das haus birgt und schützt seine bewohner wie die haut den körper. jedes haus, das geweiht wurde, stellte einen miniaturtempel und ein abbild des universums dar. hier sehen wir häuserfriedhöfe, allerdings ohne grabsteine. die bauten haben ihren schützenden charakter verloren. wenn architektur gefrorene mathematik oder musik ist, dann sind ruinen zerfallende mathematik oder musik. roland barthes erklärte: »Was ist der Abfall? Es ist der Name dessen, was einen Namen besessen hat, der Name des Ent-nannten.« und »Die Entnennung des Objekts verläuft zwangsläufig über eine Phase der üppigen Über-benennung.« alles was einmal konvention und norm war, wird entwertet und zerfällt, das haus zum un-haus, die fabrik zur un-fabrik, der marode bahnhof, an dem züge halten, zum un-bahnhof. etwas vermeintlich normal und dauerhaft werden zu lassen, heißt es überzubewerten.

jutta gampe könnte sagen: »Wer vorm Abriß kommt, fotografiert noch.« künstlerisch ist eine vom verfall gezeichnete fabrik meist interessanter als eine funktionierende. dieser kontrast entspricht dem zwischen himmel und hölle, was auch etwas über die ursprünge der kunst sagt. die zerfallende fabrikruine, die man aus eigenem antrieb aufsucht, lädt zur muße ein, da sie sich zwanglos betrachten läßt, wenngleich meist sicher melancholisch oder nostalgisch. wer hingegen eine arbeitende fabrik betritt, wird schnell hineingezogen in einen festgelegten zeittakt und andere faktoren der entfremdung. die industriefotografien zeigen stillgelegte und verlassene räderwerke der industrie, die eigentlich paradiese auf erden sein könnten, und für manche tiere auch sind. denn in diesen ruinen stehen und sitzen keine menschen als rädchen im getriebe, die wie maschinenteile arbeiten und dadurch zu massemenschen werden und abstumpfen.

verfallend kehrt die technik zur natur zurück, aus deren materialien sie entstand, und überlebt in fotografien. ein foto zeigt verrostetes metall, das in der schrägen goldenen mitte einen geist mit zipfelmütze darzustellen scheint. die ruinenfotos dokumentieren nicht vordergründig tote industrie, sondern rücken, da sie im verfallenen originelles zeigen, das ästhetische der gegenstände ins zentrum, die gestalt bekommen, sofern man einen blick und ein gespür dafür hat, selbst, oder gerade, wenn sie schrott oder müll sind. die fotografien des ruinösen, dessen zerfall teils bizarre, ja schöne, formen und strukturen bildet, lassen das marode, also erschöpfte, ermüdete, jenseits seiner profanen realität künstlerisch auferstehn. jutta gampe aber macht keine zeitgeistgemäßen dekorationen daraus.

die erlernten techniken des zeichnens und der malerei wirken bei ihr durch das daran geschulte formstrukturundfarbgespür weiter, ja wie vorstufen für ihre fotografie, mit der sie am meisten zu sich selbst gekommen ist, vielleicht auch, da sie darin handwerkliche zwänge der kunst am ehesten abwerfen konnte. vor allem das zeichnen ging ins fotografieren über. dabei hat sie sich immer mehr modernen wahrnehmungsweisen und vorstellungen geöffnet. und das in einer gegend, wo viele noch glauben, ein foto sei das bloße abbild eines gegenstandes, und die kulturellen erwartungen teils nicht nur hundert, sondern, sofern sie sich, neben postmoderner populärkultur, an biedermeier und trivialromantik orientieren, fast zweihundert jahre hinter modernen entwicklungen zurück sind. barthes konstatierte: »Nichts ist der Kunst entgegengesetzter als die Idee, die bloße Widerspiegelung der dargestellten Dinge zu sein; selbst die Fotografie erträgt dieses Schicksal nicht.«

hans arp forderte einen »Feldzug gegen die Armeen des goldenen Schnitts«, also das wohlige eingerichtetsein im bild, das der kunst das blut aussaugt. der übermäßige drang nach harmonie, der im klischee endet, ruiniert schöpferische potentiale. heute ist zu befürchten, daß sich regressive vormoderne kleinbürgerliche kulturvorstellungen, deren motto »Zurück vor die Moderne« lauten könnte, zunehmend mit nationalistischen und völkischen vorurteilen und feindbildern verbinden, die ebenfalls ins 19. jahrhundert zurück wollen. kulturelles zurückgebliebensein kann am ende lebensgefährlich wirken. unter den käseglocken des nationalen und regionalen muß öfter mal gelüftet werden.

susan sontag nannte die fotografie »das Abbild eines Abbildes«. abbilder können sehr einfach sein. auch eine pfütze spiegelt einen teil der welt. in einer von bildern überfluteten gesellschaft kann das einzelne foto wieder wichtig werden. der moderne mensch ist derart von erscheinungen und folgen umgeben, daß er wesen und ursachen von verhältnissen und verhaltensweisen kaum mehr zu erkennen vermag. die erfahrungen mit der fotografie und ihrem kind, dem film, beförderten und erweiterten die beobachtungsgabe der menschen technisch, aber verflachten sie zugleich kulturell. sontag erkannte anhand von fotos einen verlust existentieller und tiefer erfahrungen: »Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet.«, und forderte, gegen die verschmutzung von und mit bildern, eine ökologie nicht nur der realen dinge, sondern auch der bilder.

vermutlich empfinden viele trivialität als erholung vom streß der beschleunigungen des alltags. und das nimmt rituelle formen an. urlaubsfotos von laien, die abbilder in souvenirs verwandelt, zeigen beutezüge von jägern und sammlern, die dem glauben entsprechen, man würde besitzen, was man fotografiert hat. arnheim schrieb: »Der Photograph ist ein Jäger, der stolz darauf ist, sich unbemerkt anpirschen und das Leben in seiner Spontaneität einfangen zu können.« und: »Indem wir ein Foto schießen, bringen wir etwas in unseren Besitz.« frühe fotoapparate sahen aus wie gewehre. jutta gampe betrachtet ihre fotos nicht als beute. und schon gar nicht betreibt sie treibjagden wie reportermeuten.

ein guter fotograf muß beim fotografieren so unbefangen sein, als ob er etwas zum ersten mal sieht. die konzentration, anspannung und bindung der kräfte für den richtigen moment beim fotografieren ähnelt yoga-übungen, die jutta gampe aus eigener erfahrung kennt. yogatechniken wurzeln in konzentrationsübungen vedischer, also altindischer, dichter. yoga, das bindung oder einheit bedeutet, meinte ursprünglich das aneignen und verinnerlichen spiritueller substanz durch die zügelung, sammlung und versenkung der sinne für die bindende vereinigung der seele mit dem göttlichen. die vedischen dichtungen sind anrufungen der götter, die man sich als identisch mit den urelementen dachte, und beschwörungen der urkräfte der schöpfung. später hat man yoga, im zuge der verweltlichung des religiösen, mit meditationstechnik, andacht, körperliches und geistiges training, askese, reinigung der seele oder vergebung übersetzt. die seelentherapie und das profane wohlbefinden ersetzen nun die bindung an das heilige.

die fotografin durchstreift landschaften auf der suche nach ungewöhnlichen details, die den blick fesseln, und gleicht dabei einer sammlerin, die verborgenes und vergessenes entdeckt. ihre fotos entstehen dann eher in ruhigen momenten. menschen und handlungen werden weitgehend ausgeblendet, wohl weil sie das zusammenspiel zwischen der betrachterin und ihren motiven, das subjekt und objekte in einer gemeinsamen sphäre verbindet, stören könnten. das einsame naturerleben, aus dem die landschaftsfotos oft entstehen, bietet einen halt gegen die hektik, oberflächlichkeit und indifferenz städtischer alltagswelten. die ruhe, die innehalten und vertiefen läßt, wird so zur privilegierten erfahrung am rande. jean paul bemerkte: »Überhaupt sind Landschaften − weil sie unserm innern Menschen, der mehr Augen hat als Ohren, leicht zu erschaffen werden, und weil sie uns in keine mit Menschen bevölkerte und erweckende Zukunft ziehen − die beste Schaukel und Wiege des unruhigen Geistes.«

wer fotografiert, muß sehen und deuten können. zugleich entsteht und wirkt die kunstform einer fotografie oft absichtslos, da unbewußt. künstlerisch, und anregend für andere, wird ein foto, wenn es über das bloße abbbild eines gegenstands hinaus mit der wünschelrute der augen etwas besonderes und neues in form, struktur und symbolik entdeckt, einfängt und über das hinausführt, was man bereits kennt, also den horizont erweitert, bis hinein ins überwirkliche. so werden die mauern der konventionellen wahrnehmung durchbrochen, die eine lieblingsbeschäftigung des kleinbürgers ist, der gern etwas sieht, worüber er nicht nachdenken muß, weil ihm alles bekannt scheint.

die fotografie ist eine miniaturform, die, im kleinen rahmen, knapp und auf den punkt gebracht, schlaglichtartig wesentliches in und an einem gegenstand aufspürt, das darüber hinausweist. jutta gampe betrachtet ihre motive mit empathie, auch weil sie darin etwas von sich erblickt, zumindest latent. der künstlerische, also magische, mensch begegnet den dingen, wie wenn sie eine seele hätten, die er ihnen wirklich gibt. ein fotograf kann an einer äußeren erscheinung und gestalt merkmale finden, und seien es nur attribute, die seinem inneren wesen, dem eigenen und dem des gegenstands, entsprechen, oder seiner vorstellung davon. wenn fundstücke der wirklichkeit als motive der fotografie über ihre profane zeit und bedeutung hinaus in einer künstlerischen sprache der zeichen aufgehoben werden, können sie spiegelungen des seelenlebens, und damit indirekte selbstporträts, des fotografen sein, der, sich fern und nahe zugleich, mehr darstellt und zeigt, als er, oder sie, weiß. zudem sind fotografien, zumal jene, die verdrängte empfindungen und erinnerungen öffnen, oft umso substanzvoller, je mehr sie realitäten in ihren ambivalenzen und paradoxien zeigen.

bei ihrer magdeburger ausstellung »Weder Berge und Meere« 2018 sagte sie über ihre künstlerischen absichten und erfahrungen: »Mich treibt der spielerische Umgang mit Formen, Farben und Materialien ‒ sie zu sortieren, alles zu verwerfen, neu zu suchen. Ebenso wichtig ist das Spiel mit der Ordnung selbst bzw. die Anordnung der Fotos, Aquarelle usw., ja der Strukturelemente innerhalb einer Zeichnung. // Ich entdeckte meine Faszination für Strukturen beim Zeichnen und hab sie auf die Fotografie übertragen. Strukturen können auch Landschaften sein. So ergänzen und beeinflussen sich Fotografie und Zeichnung bzw. Aquarell wechselseitig. Ich konzentriere mich gern auf Ausschnitte. Ein Foto ist ohnehin im wörtlichen Sinne eine „Momentaufnahme“ und eine Schnittstelle zwischen Makro- und Mikrokosmos« und: »Beeindruckt vom scheinbar Unwichtigen, Zerbrochenen, Weggeworfenen wird das Spiel ernsthaft, nämlich wenn ich diesem leisen Unscheinbaren einen Platz schenke.«

roland barthes empfahl, wenn man ein foto genau betrachten will, sei es besser, den kopf zu heben oder die augen zu schließen, und ergänzte: »Die absolute Subjektivität erreicht man nur in einem Zustand der Stille, dem Bemühen um Stille (die Augen schließen bedeutet, das Bild in der Stille zum Sprechen zu bringen.)« der besucher der ausstellungen hat die möglichkeit, die fotomotive selber neu und anders zusammenzusetzen. wenn fotografie kunst ist, gehört sie zuerst dem künstler und dann allen, die sie betrachten. kunst kann also den privatbesitz aufheben.

jutta gampe schreibt ihren fotografien, die sie auch nicht am computer bearbeitet, nicht von vornherein bedeutungen zu. sie will nichts erklären und beweisen und verzichtet fast immer auf bildtitel, um den betrachter nicht festzulegen und einzuengen und ihm keine vorauseilende sinnhaftigkeit aufzubürden, sondern läßt sie, einem urvertrauen in bilder folgend, selber sprechen, indem sie auf die unmittelbare wirkung der visuellen eindrücke hofft. titellose fotografien fordern auf, etwas zu enträtseln, und senden die botschaft aus: seht, empfindet und denkt selber. pressefotografie, die möglichst eindeutige botschaften vermittelt soll, ist der werbefotografie meist näher als der künstlerischen fotografie, die eher vieldeutig wirkt.

eine vorliebe hat die fotografin für steine, natürliche wie bauliche. man findet felsen und felsklüfte sowie erodierten oder porös gewordenen kalkstein oder sandstein, durch dessen löcher, zwergenlöcher genannt, zwerge der märchen und sagen in ihre wohnungen und werkstätten schlüpfen, außerdem bausteine, putz, tapete, holz, gewebe, daneben metall und glas, und überdies andere materialien und elemente der natur, baumrinde, das innere eines baumes, eine agave, aufgerissene erdkruste, strukturen von fließendem und springendem wasser.

die naturfotografien lassen teils kulturelle bedeutungen aufscheinen. merkwürdige formen können einen verborgenen sinn enthalten, durch den selbst vertrautes neu erscheint, zumal wenn man sie symbolisch deutet. manche der fotografien assoziieren mir kulturgeschichtliche und mythologische motive und figuren, etwa bei steinen, die von den elementen, vor allem meister und meisterin wasser und wind, gestaltet wurden. ein foto könnte runenzeichen darstellen, ein weiteres keilschriftzeichen, die indes formen geologischen ursprungs sind. ein stein, dessen löcher wie augen, mund und nase eines mondgesichts wirken, gleicht einer götteroderdämonenfigur.

baumharzeule und giraffenküken sehen genauso aus, wie ihr name sagt. anderes erinnert an bauwerke von antonio gaudi oder die sphinx. die überlagerungen, bei denen die fotografin zwei oder drei fotos übereinander gedruckt und dann abfotografiert hat, die collagiert und malerisch wirken, ließen mich an höhlenmalerei denken. höhlen waren wohnstätten früher menschen, deren genanlagen wir in uns tragen, sowie in mythos und sage geburtsstätten der götter und plätze von totenseelen.

noch um 1900 glaubten manche, man könnte gespenster fotografieren und damit deren existenz nachweisen. fast zeitgleich hielt man es für möglich, auf der retina eines opfers von jack the ripper ein bild des mörders vorzufinden, das als fahndungsfoto brauchbar wäre. meist unbewußt ist die annahme, man könne mit fotografien etwas bannen und so gefahren und ängste abwehren. franz kafka notierte: »Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen.« jean baudrillard erklärte: »Die Fotografie ist unser Exorzismus. Die primitive Gesellschaft hatte ihre Masken, die bürgerliche ihre Spiegel. Wir haben unsere Bilder.«

franz hessel schrieb: »Nur was uns anschaut, sehen wir.« barthes bemerkte, viele würden vor lauter hinschauen vergessen, daß sie selber angeschaut werden. wer empathisch über sich selbst hinaus sieht und so einen kreislauf zwischen betrachten und betrachtetwerden eröffnet, erlebt, daß fotos einen selbst anschauen, ja denkt darüber nach, was tote sehen. vielleicht wird manchmal sogar der fotograf zum phantom, das fotografiert. je tiefer man sich mit der fotografie beschäftigt, umso unheimlicher kann sie einem werden. aber das ist eigentlich mit allem so, weshalb die meisten menschen an der oberfläche bleiben. allerdings würden viele ihre umgebung wohl sogar unmittelbar vor einem unvermeidlich bevorstehenden weltuntergang, wenn uns der himmel auf den kopf fällt, noch fotografieren.

barthes erläuterte, ab-bildung sei im etymologischen sinne die wiederkehr des dagewesenen, in ihr enthülle das präsens sein paradox, bereits stattgefunden zu haben. der vergangene moment eines fotos, der zeigt, was so nicht mehr existiert, weist auf die vergänglichkeit des lebens hin. susan sontag schrieb: »Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge): Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.« barthes meinte, das grundmuster der fotografisch stillgestellten zeit wäre das eingeschlafensein dornröschens, was an auferweckung, und damit auferstehung, denken läßt, paul virilio, »daß alle Kunst wie der Tod ist, ein Tempowechsel in der Ordnung der gelebten Zeit.«

bei jutta gampe meint auferstehung zunächst die bewahrung fotografierter momente, die im diesseits des festgehaltenwordenseins erhalten bleiben. beseelungen durch kunst lassen die verdinglichten menschen und vermenschlichten dinge auferstehn. die entstehung von kunst ist so, bewußt oder unbewußt, eher letzteres, immer auch selbsttherapie. in der fotografie hat die künstlerin, über verletzungen und bedrohungen hinweg, sich selbst und ihre kunst gefunden und in formen und strukturen aufgehoben, die auch körperliche und seelische wunden, narben, verwandlungen und heilungen zeigen.

 

 

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Spiel + Ordnung, Katalog von Jutta Gampe (erhältlich über die Künstlerin: Jutta Gampe, Heimstättensiedlung 4 / 39240 Calbe – Tel.: 039291/41726).

Weiterführend →

Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Was den Rezensionsessays von Holger Benkel die Überzeugungskraft verleiht, ist die philosophische Anstrengung, denen er sein Material unterwirft, seine Texte zeigen, was der Fokus auf eine Fragestellung sichtbar machen kann, wie diese Konzentration aufdeckt, was dem Schreibenden selbst verborgen blieb, wohl wissend, daß die Fülle der Literatur, der Kunst und des Lebens eben darin liegen, nie alles wissen zu können.