Autor: Julia Kulewatz

Dies ist kein Wiegenlied

Über das Schaukeln: Collagierter Wach-Traum und Fremd-Sein in eigenen Bildern bei Herta Müller Immer dieselbe Frage sickert tröpfchenweise in mein Denken, wenn ich versuche, Herta Müller zu lesen: Wo fange ich diesmal an und wo ende ich? ‒ Diese Frage…

Zum Dazwischen als generative Grauzone im Schreiben Herta Müllers

„I see the shaded part on one side where the sleepers are sleeping, […]”[1] Das „Vor-Augen-Führen“[2] (Aristoteles, Rhetorik. 1410b) – damit nähern wir uns dem Aristotelischen Metaphernverständnis als Kraft des Sehens; die Sehkraft ist bereits eine Metapher[3] dafür, wie wir…

Von Drachen und Drachen

  Das Formgedicht KITE ist visuelle Poesie und verbindet fünfzig Sprachen und Dialekte miteinander, von denen in den seltensten Fällen alle Übersetzungen für den Rezipienten lesbar sein dürften. Ich sage bewusst „Rezipient“, denn das Formgedicht ist für den Leser und…

# 1

  weil du es mir sagst, mit durchsichtigen lippen und dem leuchten der mittagssonne auf deinen türkis lackierten fingerspitzen, muss es wahrheit sein.     *** counting magpies, von Julia Kulewatz, kul-ja, 2021 Ein Taschenbuch im wahrsten Sinne des Wortes.…

Stimmloses F

  „Ich bin in der Menschenwelt untergetaucht!“ In einer regnerischen Nacht ist sie vor meiner Wohnung gestrandet und hat mich wortlos überflutet als ein stummes Abbild all meiner Ängste und Sehnsüchte. Ich kann mich an kein Geräusch erinnern, nur an…

WADI

  Risse durchzogen ferne Trockenheit, brachen Erde mit feuchter Erinnerung, schufen Verbindungen, vertieften sich in durstigen Miniaturschluchten und flachen Mulden. Vom Zufall beschlossenes Klaffen erzeugte vereinzelt abgetrennte Körperschaften. Ein feines Netz überzog die verwundete Landschaft, die sich wie ein einsam…

ISOLDE

  Ich habe den Nektar saurer Kirschen aus seiner hohlen Hand getrunken, die Krone aus Meer- schaum unterm Baum abgelegt, der meine Mutter beschattet, und bald ihn. Wie haben wir geblüht und geblutet durch unsere offenen Herzen. Unsere Münder waren…

TRISTAN

  Meine Sehnsucht nach ihr ist sauerkirschkerngroß, größer als der Ort, an dem wir unsere Herzen mit den Schaufeln unserer Väter unter schwerem Blütenschnee begraben haben. Nicht aus jedem Kirschkern wächst ein Baum. Wir haben unsere in die Welt gespuckt.…

Vom Zugzwang der Wolken

  Als mein Sohn mich nach seinem Vater fragte, hatte er ernste Augen. Er nannte mich zum ersten Mal bei meinem Vornamen, nicht länger Mutter. „Amani, bitte erzähle mir von ihm“, flehte er. Bitte sage mir, dass ihr euch geliebt…

DUNA

  Ein scharlachroter Lippenstift lässt ihren Mund zur Wunde werden. Sanft verkriechen sich seine roten Reste in zuckende Mundwinkel, bilden Fältchen in vollen Lippen, schaffen ein rostendes Gestein. Hinter ihren Augen wohnt etwas Hartes, das den verwüsteten Körper verraten will.…

Der Kulibri schlüpft

Als Fräulein K. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand sie sich in seinem Bett zu einem Kulibri verwandelt. Das Fräulein K. stand unausgeschlafen, missmutig und mit zerkratztem Gesicht vor einem Spiegel, der massiv über einer hölzernen Kommode thronte. Das…