Nachbarn

  Florin hat sich völlig zurückgezogen. Er will in Ruhe seine Dissertation über die so genannte Rote Armee Fraktion zu Ende bringen. Die Gliederung über den Deutschen Herbst ist stimmig. Die Sekundärliteratur komplett. Seine Notizen hat er bereits vollständig geordnet.…

Dies ist kein Wiegenlied

Über das Schaukeln: Collagierter Wach-Traum und Fremd-Sein in eigenen Bildern bei Herta Müller Immer dieselbe Frage sickert tröpfchenweise in mein Denken, wenn ich versuche, Herta Müller zu lesen: Wo fange ich diesmal an und wo ende ich? ‒ Diese Frage…

Des Künstlers Seele

An Vernissagen von Galerien würde man ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit begegnen, denn gewissermassen ist es seine Pflicht, an solcherlei Anlässen zu erscheinen. Diese Feierlichkeiten – eher von politischer und banaler denn ästhetisch-philosophischer Natur. Er ist also zugegen, hat seine Atelierumgebung…

DER PASSANT

  ich habe eine bekannte besucht und fahre mit der straßenbahn zur arbeit durch jene straße, die ich sonst zeitgleich als fußgänger durchquere. ich stehe in der bahn am fenster und halte ausschau, ob ich mich draußen entlanggehen sehe. doch…

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  die Gefühle verschnörkelt eine Zungenprothese angelegt Protest mit Zähnen: gegen Rechts sich das Weiß ausbeißen bis es zu Schnee wird: wenn     *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2023 Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich…

Erinnerung an den Tag des Mauerbaus

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel-Reich-Ranicki. Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht Am 13. August unterbrachen die Bauarbeiter ihre Arbeit am Wohnungsbau und arbeiteten andere Statikpläne aus. Der SED-Parteichef wollte stets das Beste: Für die Partei,…

Unter Strom im Frühlicht

Das Grundrissbild aus der Orientierung gerissen, mit dem Wind in die Wüste. Ohne Halt das Gedächtnis, wenn die Transportkraft des Windes nachlässt. Ablagerung sein. Über Abgelagertem.   Die Berliner Oberbaumbrücke in Kreuzberg war in den 70er und 80er Jahren mein…

Gezeitengespräch 8

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.   Zeitnah (hier und dort): Es ist Frühling, ich weiß wohl, da kochen die Säfte wieder langsam auf. Da wäre das…

untiefen

  blieb wohl oder übel im gedankentreibsand stecken zwischen staubsauger und biotonne erschlägt eine zeitungszeile das nichts zum nächsten überlebenstraining warten hinter verregnetem fensterglas grau-schwarz lindengerippe auf den anflug flüchtender krähen des nachbars satellitenschüssel saugt bewegte bilder aus südost und…

Die Wirklichkeit und die Ewigkeit

Ein dialogischer Essay Aquin Kohl war ein vertrockneter Hegelianer, der sich immer mal wieder in die Einsiedelei ver­kroch und dann alles und jeden negierte. Aber auch als Hegelianer braucht man mitunter einige so­ziale Kontakte, um überleben zu können, zumal wenn…

Auf und unter Dach (Teil 2)

  Als durchaus frugal konnte dieses unerwartete Frühstück beschrieben werden. Herrlich diese frischen Brötchen und der einzeln aufgebrühte Kaffee. Die modernen Maschinen haben es für sich, das italienische Espressoungetüm nachzuahmen. Zwar sind sie nicht mehr so riesig und machen längst…

Über das Marionettentheater

  Als ich den Winter 1801 in M… zubrachte, traf ich daselbst eines Abends, in einem öffentlichen Garten, den Herrn C. an, der seit kurzem, in dieser Stadt, als erster Tänzer der Oper, angestellt war, und bei dem Publiko außerordentliches…

DER STAAT UND DIE KUNST

Aus dem vorwort zu den „richtlinien für ein kunstamt“ Der staat hat sich zu entscheiden, ob er den künstlern helfen will oder der kunst. In der monarchie war der herrscher der schutzherr der kunst. In der republik ist es das…

Auf und unter Dach (Teil 1)

  Der Nebel lag noch in den Feldern, die meisten Menschen schliefen an diesem Samstagmorgen noch, als sich Herr Nipp aufmachte, die große Stadt in allernächster Nachbarschaft zu erkunden. Aus der Ferne betrachtet, hat diese Ansammlung an meist doch recht…

Leichenreden

Versehn is ooch verspielt! Berliner Redensart »Mensch«, sagt der Berliener, wenn er beim Skat sitzt und der Gegner klaubt ihm gar zu genau auseinander, wie er hätte spielen sollen und wie er nicht hätte spielen sollen, »nu halt dir nich…

Von der Mäßigung

  Gleichsam als ob unsere Berührung etwas Ansteckendes hätte, verderben wir durch unser Behandeln solche Dinge, die an und für sich selbst schön und gut sind. Wir können die Tugend auf eine Art ergreifen, daß sie dadurch fehlerhaft wird; wenn…

Marias

  habe sie nicht gewusst wohin mit ihrer verzweiflung oder das ist zumindest die stimme die übrig blieb/ den mundtod weitergeben an das was aus der gebärmutter raus/ und ihr in eine welt geflutscht in der sie kein stimmrecht gehabt…

Der Faden im Kopf

  Irgendwann, ganz für mich war das, überkam mich der Gedanke, was wenn doch. Was, wenn all die Ideen, die in meiner Inspirations-Box liegen, doch eines Tages verwirklicht werden? Was, wenn ich die Schachtel einmal ganz bewusst öffne und alles…

DIE REISE NACH PHILIPPI

  ich fahre nach philippi, usa, wo eine freundin eine gotische kirche erbauen soll, weil die amerikaner so etwas nicht haben und den kinderkreuzzug nach jerusalem inszenieren wollen. ich wurde beauftragt, die dramaturgen zum satanskult zu beraten, und nahm diesen…

Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze

  Eine Schrift, der ein derartiger Titel vorgedruckt ist, setzt damit ihren Inhalt sofort zwei Deutungen aus. Entweder, sagt man sich, sieht der Verfasser das Problem, das seiner Arbeit als Object dient, bereits für gelöst an und beschränkt sich nun…

Poetische Feldforschung

Dichter werden verstanden, indem sie gelesen werden. Und so gilt es denn, die Schriften zu studieren und zu drehen und zu wenden, bis uns ihre Bedeutung allmählich transparent wird. Holger Benkels utopische und apokalyptische Gedanken – beides scheint zusammenzugehören –…

Vorher!

  Bei Albert Langen ist im Jahre 1910 ein Buch erschienen, das bereits hundertmal vorher geschrieben worden ist und noch Hunderte von Malen nachher geschrieben werden wird. Es heißt ›Hinter Schloß und Riegel‹ und schildert mit unerbittlicher Genauigkeit die deutsche…

Himalajafinsternis

  Das ist der Fluch und zugleich die Wollust des Reisens, daß es dir Orte, die dir vorher in der Unendlichkeit und in der Unerreichbarkeit lagen, endlich und erreichbar macht. Diese Endlichkeit und Erreichbarkeit zieht dir aber geistige Grenzen, die…

Courage

  Da stand er also vor dem Spiegel und sah in dieses Gesicht, das ihm immer schon fremd gewesen war. So, als habe irgendwann irgendjemand irgendwie dieses Etwas ihm aufgepflanzt. Warum hast du dieses Gesicht und warum passt es so…

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  Paradiesapfel der Sonne wie schön doch FORM follows FUNCTION radier die Träume aus: Radioaktivität     *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2023 Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage nach,…

Sartres heroischer Nihilismus

Vielleicht das Schönste, das Sartre geschrieben hat, ist das Textbuch zu dem Film „Les jeux sont faits“ (1947; als Theaterstück 1958): Dieses sprachlich einfache Werk ist ein Märchenspiel, in dem durchaus fraglich wird, ob Sartre mit der üblichen Kennzeichnung eines…

Ein Arbeiterkinderheim

  Man steigt von Elgersburg eine kleine halbe Stunde hinauf, den Blick ständig über den herrlichen Waldeshöhen, die, Goethes Spazierwege, nach Ilmenau und weiter führen. Dort, mitten im Thüringer Wald, liegen die beiden hübschen Häuser des Kinderheims Mopr. Dort, in…

Schwarz und weiß

  Der See hätte auseinanderbrechen müssen wie damals dem Moses und seinem Volk das Rote Meer, um eines Menschen Gedanken da hindurchführen zu können. Da, in der Mitte, der Länge nach, war nicht einmal Überschwang, nur RISS, das Allerentfernteste,  das…

Erkenntniskritische Vorrede

Da im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden kann, weil jenem das Innre, dieser das Äußere fehlt, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgend eine Art von Ganzheit…

Die Außenseiterbande

Eine Erinnerung an die „Dirty Speech“-Bewegung in der BRD, die 1969 mit der Rolf Dieter Brinkmanns „Acid“ zu verorten ist. Es war eine Anthologie amerikanischer Beatliteratur, gesammelt und damit den Versuch eröffnend, auch in der deutschen Dichtung die bürgerliche Moral…

Metamorphose

  Shrillness. Travestie wird zum Schlüssel zur Wahrhaftigkeit. Ein manieriertes Spiel mit Masken und Moden. Auflösung eindeutiger Geschlechtsidentität. Die Idee eines Originals ist getilgt, der imitierten Weiblichkeit geht keine genuine Weiblichkeit voraus. Lasziv wirft Michel die Federboa über die Schulter.…

Die Stimme

Blicke auf Stimme Worte für Stimme Musik Trocken gesagt eine Sprache eine Win-Win Sache und darüber rentabel: ein Mal komponiert spielbar mannigfach ohne Materialermüdung dazu universell. Sie ist Freilauf des Gehirns. Auf Hörpromenaden klingende Skulpturen changierend in Form zwirbelnd wellend…

Poesie und Leben

Aus einem Vortrag Sie haben mich kommen lassen, damit ich Ihnen etwas über einen Dichter dieser Zeit erzähle, oder auch über einige Dichter oder über die Dichtung überhaupt. Sie hören gern, wovon ich, muß man denken, gerne reden mag; wir…

DAS MYSTERIUM DER AKUSTIK

  Man hat mich gefragt, ob der Bösendorfersaal erhalten werden solle. Der frager ging wohl von der voraussetzung aus, daß es eine sache der pietät wäre, einen saal, der in der musikgeschichte Wiens eine so große rolle gespielt hat, nicht…

Gezeitengespräch 7

Vorbemerkung der Redaktion: In diesem Jahr machen wir das vergriffene Gezeitengespräch von Haimo Hieronymus und Karl Hosse auf KUNO recherchierbar.   Zeitnah (Raum Zeit): Du siehst das Magische, nicht weil es ist, sondern weil du bereit bist, es zu sehen.…

Macht und Wahrnehmung

Überall, wo soziales Leben stattfindet, findet auch Macht statt. Tatsächlich scheint, unabhängig vom Willen zur Macht, der jedem Menschen innewohnt (Nietzsche), Macht notwendig zu sein, um eine soziale Ordnung zu schaffen und anhand dieser Struktur Wohlbefinden sowie psychische Gesundheit. Bateson…

Kurze Prosa, lange Nachwirkung

Flüsse sind wie Seelen – so grundverschieden, dass wir für jeden Fluss eine andere Sprache entwickeln müssten. Vladimir Nabokov Mit dem Erscheinen der Vignetten ging das Projekt Labor im Jahr 2009 in ein Label über. Wie alle Rebellen braucht auch…