Liebe am Nachmittag

  «Ariane, jeune fille russe», 1920 in der Editions de la sirène in Paris publiziert, für den Prix Concourt nominiert, ist unter sehr verschiedenen Aspekten ein ungewöhnlicher Roman. Der geographische Hintergrund der Romanhandlung bildet das berühmte Empire Hotel London in…

Bühnendrehung

  Bühnendrehung. Am Nachbartisch eine mitteljunge Frau, Fliegerjacke, schwarzer Igelkopf, ganz sicher vom Theater gegenüber. Als wäre ich in eine Hardcore-Situation gerutscht … Sie lippt am Espressotässchen, als wäre es eine ganz spezielle Muschel in der Rolle, die sie gerade…

Die Sektion

  Der Tote lag allein und nackt auf einem Weißen Tisch in dem großen Saal, in dem bedrückenden Weiß, der grausamen Nüchternheit des Operationssaales, in dem noch die Schreie unendlicher Qualen zu zittern schienen. Die Mittagssonne bedeckte ihn und ließ…

Traumtänzer ∙ Revisited

Zurück in die Zukunft der 1990er Jahre Hat mich der Teufel geritten, daß ich den anschließenden Artikel aus längst vergangenen Zeiten hervorhol, um ihn nach so vielen Jahren noch einmal zu veröffentlichen? Es kann nicht schaden, sag ich blauäugig (und…

Parallel laufende Neongänge

  Zwischen den parallel laufenden Neongängen befinden sich Schaufensterblöcke. Die Schaufenster sind wie Aquarien. Es passt nicht mehr dahinter als ein einziges, bunt überdecktes Doppelbett, welches wohl nicht einmal seiner Originalgröße entspricht. Die drei dichtgrenzenden Wände sind mit Vorhangstoffen bespannt.…

Nicht jede Blume ist blau

  Nicht jede Blume ist blau. Nun bemale ich meinen Sarg. Meine Hoffnung tanzt hinter den Kulissen. Die Bühne dreht Sommer in meinen Schädel. Ich bin aus Papier. Da schlägt mein Schatten dem Schlaf ins Gesicht. Kopfhaut zuckt in spitzer…

Romeo und Julia auf dem Dorfe

Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist…

Bahnhof

  ich bin als kind mit meinen eltern am ende eines urlaubs auf dem hauptbahnhof stralsund, wo ständig veränderte zeiten und bahnsteige für die abfahrt der züge durchgesagt werden, so daß die reisenden aufgeregt hin und her laufen. endlich finden…

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  Schau: Wellen falten sich auch auf der Haut des Meeres Leben geht nie glatt     *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2022 Weiterführend →  Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht sie der Frage…

Kurze Rast

  Mehrere Stunden hatte er bereits am Lenkrad verbracht, einige hundert Kilometer Strecke hinter sich gelassen. Irgendwann sollte der erfahrene Kraftwagenfahrer jedoch auf die Zeichen des Körpers achten. Spätestens wenn sich die Gedanken plötzlich in Kleinigkeiten verlieren, fast gleich einem…

Das rote Gummiband

  Der Raum besaß auf ungewohnte Weise Fenster im rechten Winkel zueinander, die den Ausblick auf ein ähnlich angelegtes Fensterstück freigaben. Ein gläserner Aschenbecher stand auf dem Schreibtisch, dem einzigen Möbelstück im Raum. Dieser Aschenbecher, ausgeleert, aber ungereinigt, enthielt ein…

Die Poesie bahnt sich ihren Weg

  Vorbemerkung der Redaktion: Seit 2000 wird jedes Jahr der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“. Die Redaktion erinnert an das Gezwitscher, das am 21. März 2006…

Der Schatz

  Im ersten Gasthofe des Bades zu K* verweilte eines Abends eine kleine Gesellschaft von Damen und Herrn im großen Speisesaale, der nur noch sparsam erleuchtet war. Der Hofrath Arbogast, ein munterer, kurzweiliger, obgleich etwas eigener Mann von imposanter Gestalt,…

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  Wellengewisper. Wer gestrandet ist, hört auf, sich den Realitäten des Alltags zu stellen. Max baut eine Sandburg. Beginnt mit feinem weissen Sand, der gut durch die Finger rieselt, um Strassen und Wege zu markieren. Aus dem schweren nassen Sand…

Gedankensehen, die Katastrophe

Ist Kultur verpflichtet, Stellung zu nehmen? Mein Blick in diesen Tagen: Ich sehe allein das unerträgliche Unglück der Menschen, einiger meiner ukrainischen und auch russischen Freunde, Kinder vor allem, die plötzlich ungreifbare Angst und den zynischen, sich als Schicksal verkleideten…

Lapidargedichte

  Es geht um ‚sachliche Wirklichkeit im Sinne der existenziellen Befindlichkeit‘, schreibt der Autor über seine zuletzt erschienen Gedichte. Keine Metaphern, keine Überhöhungen, nicht das Schöne sei angestrebt. Sogenannte ‚Lapidargedichte‘ nennt Wiplinger diese Lyrik. Mit diesem Begriff bin ich nicht…

Die Bauhütte®

  Karl Richter ist heilfroh, nach seiner Rehabilitation einen Lebensrhythmus zu haben. Ein Pilot–Projekt, bei dem sich die Stelle aus dem Kapitalrückfluss finanzieren soll. Im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmassnahme ist er als Detektiv im Heimwerkermarkt Bauhütte® tätig. Der Name des Geschäfts fusst…

Die schwarzen Kühe der Nacht

  Die schwarzen Kühe der Nacht. Als ich ein Kind war, da sangen und sprangen wir in die mit Kreide auf blauen Asphalt gemalten Kästchen zwischen Himmel und Hölle: Kaiser König Edelmann – Bürger Bauer Bettelmann … Hein der Schnitter…

Der Fallensteller

Ein gerettetes Stück unbestimmter Sprache Nur für geschlossne Augen ist der Raum geschaffen, und für Singvögel. Wieviele heute Fallen stellen, bleibt dunkel. Der Hof war von der Außenwelt abgeschlossen, nein, wie abgeschlossen. Er war ja durch wenige Fenster einsehbar, auch…

die ornament-seuche

  Nun gut, die ornament-seuche ist staatlich anerkannt und wird mit staatsgeldern subventioniert. Ich aber erblicke darin einen rückschritt. Ich lasse den einwand nicht gelten, daß das ornament die lebensfreude eines kultivierten menschen erhöht, lasse den einwand nicht gelten, der…

Der Derwisch

Franz Marc und Mareia Die englischen Damen reiten jeden Abend auf ihren Eseln die heiße Gräberstraße entlang, die heiligen Katzen hinter den Gittern der Gräber blicken schon weltlich. Der Derwisch tanzt. Die Ladies mit den hellen Augen like the spring…

Strandgut

  Strandgut aus der Sprachdiffusion auflesen / goldene Schimmer daraus machen / die Erde damit beflecken / wie Jean Krier / poetische Alchemie     *** Mit seiner micropoetry gelingt es Denis Ullrich eine übernutzte Sprache zu entkernen. Seine vielgestaltigen Texte…

baumbücher aus der vergifteten welt

BÄUME »Bäume vergessen nicht« ist ein unikates buchobjekt, ein baumbuch von baumholz ummantelt, in dem das innere, das man aufklappen kann, wie bei bäumen von der rinde geschützt wird. uwe albert schreibt: »Als Kind setzte ich mich manchmal an einen…

SCHWARZ UND WEISS

  Der See hätte auseinanderbrechen müssen wie damals dem Moses und seinem Volk das Rote Meer, um eines Menschen Gedanken da hindurchführen zu können. Da, in der Mitte, der Länge nach, war nicht einmal Überschwang, nur RISS, das Allerentfernteste, das…

Zwischen Stäben

  Zwischen Stäben. Ich dehne mich aus, sagt Die Expansion, ich weiß nicht, wie. Ich auch nicht, sagt Die erste Dimension. Da war ich bestimmt schon da, sagt Die Gravitation, oder auch nicht, ich kann mich nicht genau erinnern, ich…

Befindlichkeit

  „Du arrogantes Arschloch, Kotzbrocken“, so war Herr Nipp noch nie bezeichnet worden. Auch folgende Sequenzen, er gebe doch immer nur den anderen Leuten die Schuld und kümmere sich um rein gar nichts, nicht einen kleinen Handschlag habe er getan,…

Kleider machen Leute

  Die Novelle Kleider machen Leute handelt von dem Schneidergesellen Wenzel Strapinski, der sich trotz Armut gut kleidet. Er gelangt in eine fremde Stadt namens Goldach und wird dort wegen seines Äußeren für einen polnischen Grafen gehalten. Nachdem er aus…

Im Fegefeuer des Krieges

Am 4. März 1916 ist Franz Marc in einem sinnlosen Krieg bei Verdun gefallen. Was wir Krieger in diesen Monaten draußen erleben, überragt in weitem Bogen unsere Denk­kraft. Wir werden Jahre brauchen, bis wir diesen sagenhaften Krieg als Tat, als unser…

Suchbild

  Der Blick, forschend. Ihre Kamera, ein Wahrheitsautomat. Sie bildet nicht ab, sondern zeichnet mit Licht. Tastet Raum / Zeit / Landschaft nach Anmutsmustern ab, inszeniert in einem Gestaltungsfeld imaginäre Ansichten blühender Landschaften. Sequenzen. Die Erinnerung des vorherigen Bildes wirft…

Geruch verbrannten Kunststoffes

  Über das Tal breitet sich der unentrinnbare Geruch verbrannten Kunststoffes. Die Information über Haldenahbau, die sich offensichtlich, d.h. an der Verwilderung gemessen, auf die Zeit vor dem Krieg bezieht, lässt weitere, noch so abwegige Schlüsse, nicht zu. Darüber, hinter…

Schreiben! Schreiben dürfen!

Schreiben! Schreiben dürfen! Das bedeutet: Träumen vor einem weißen Blatt Papier, unbewusstes Gekritzel, das Spiel der Feder, die rund um einen Tintenklecks kreist, die das unvollkommene Wort benagt, zerkratzt, mit kleinen Pfeilen spickt, es mit Fühlern und Tatzen verziert, bis…

In statu narrandi

  In statu narrandi. Ich gehe träumerisch durch mein Leben, das steht schon in meinem ersten Schulzeugnis. Ich sehe mich in den Dingen gespiegelt. Kein Gott ist so stark wie ich, nicht einmal der Allmächtige. Ich bin der größte anzunehmende…

AM BAUM

  ich hänge, festgebunden am großen ast einer kiefer, in lichter höhe. mein gesicht, leicht nach oben gewandt, wirkt gelassen und gefaßt und verrät keinerlei schmerz, angst oder bedauern. am himmel ziehen langsam weiße wolken über mich hinweg. unter mir…

Mozart auf der Reise nach Prag

Diese Novelle gilt als die wohl „berühmteste Künstlernovelle des 19. Jahrhunderts“. Der Komponist ist mit seiner Gattin Konstanze auf dem Weg von Wien nach Prag, wo die Uraufführung seiner neuen Oper Don Juan stattfinden soll. Als man auf dem Land,…

Appell an den Geist

  Wir Menschen sind geschaffen, in Gesellschaft miteinander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, lelben voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrauchen miteinander ihren Ertrag. Man mag diese Einrichtung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung gegenüber fast allen anderen…

Manchmal

  Manchmal schreibt Herr Nipp, ohne Literat zu sein, manchmal malt er und kann es nicht, er ist bekennender Raucher und raucht nicht, strikter Abstinenzler und liebt Wein, exzessiver Leser, ohne belesen zu sein, er liebt Musik und ist unmusikalisch,…

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  ein Kind mit zerbombtem Kiefer rennt in die Kamera dein Fernseher aber beginnt nicht zu brennen sag nennt man uns alle Menschen?   *** Baumzyklen, Gedichte von Sophie Reyer, KUNO 2022 Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. In…

Erkaltete Heizkörper

  Man lehnte zu viert an dem erkalteten Heizkörper mit dem Rücken zum Tageslichtfenster. Kaum lesbar das Namensschild an der Tür, der kleiner darunter gedruckte Titel, -die auch dort angehefteten Stundenblätter wurden durch die Atemzüge der Nächststehenden bewegt. Man horchte…

Entnichtung

  Entnichtung. Mir starb der beste Freund, er schaute blind ins Leere zuletzt. Ich spürte, er hörte jedes Wort. Drei Tage vor seinem Tod bewegte er die Lippen tonlos zwei Sätze lang. Der Sterbende ist immer weniger der, der er…

ENDEVOMANFANGANFANGVOMENDE

  ich bin nicht das was sie sagen nicht der den man sich denkt nicht die die ich für dich bin nicht das was ich war für den einen nicht das was ich nie war für keinen wie sollte auch…