Schlagwort: Gertrud Kolmar

Der Mißhandelte

  In meiner Zelle brennt die ganze Nacht das Licht. Ich stehe an der Wand und schlafen darf ich nicht; Denn alle zehn Minuten kommt ein Wärter, mich zu schaun. Ich wache an der Wand. Sein Hemd ist braun. Die…

Die gelbe Rose

  Die gelbe Rose, zart und dunkel umlaubt, In Porzellan vom bläulichen Grau der Taube, Die gelbe Rose öffnet das blühende Haupt Und zieht in Duft, dem safranfarbigen Staube, Durch meine Stube schwimmend wie Träume hin, Die goldbeschnäbelten Schwäne, die…

Poetologische Positionsbestimmung

 Das Gedicht war eine ungeheure Erfindung. Das ganze Menschheitswissen wurde in gebundener Sprache überliefert.  Ernst Pöppels Kurze Vorrede, mit der freundlichen Bitte um etwas Geduld: Mein Gehirn ähnelt einem Muskel, es bleibt nur fit, wenn ich es beständig trainiere. Wichtig…

Der Brief

Ein Fetzen Weh, vom Wind daher gefegt, Das war er nun. Ich hab‘ ihn still ins heil’ge Buch gelegt, Zu ruhn – zu ruhn—–   Und die vergilbten Blätter schlössen ihn So linde ein, Wie Totenhülle, weißer denn Jasmin, Der…

Die Fahne

Nun geht der Westwind träumen Im weißen Arm der Winternacht; Die Zweiglein an den Bäumen, Sie haben zitternd sein gedacht.   Es kriecht sein schläfrig Raunen Am schlanken Fahnenmast hinauf. Das weckt des Himmels Staunen; Er schlägt die Sternenaugen auf.…

Eine kleine Geschichte der deutschsprachigen Lyrik

Vorbemerkung der Redaktion: Die Lyrik ist eine der frühen literarischen Formen. Wenn auch die frühesten überlieferten lyrischen Texte nicht als Gedichte im heutigen Sinne verstanden wurden – das Vorkommen von Reim bzw. Alliteration, einer Metrik oder eines sprachlichen Rhythmus genügt,…

Kurze Wege

  Und werd‘ ich dann im Regen Der weißen Rosen gehn, Wenn bald ob Waldeswegen Die Winterflocken wehn, So wandl‘ ich wieder Bahnen, Die nimmer ich verließ, So klingt mir heut’ges Mahnen, Das einst mich folgen hieß.   Vereister Sturzbach…

Madonna aus dem Hause Tempi

  O Mutter! Deren Arm ein All umspannt! So süß entzückt, mit schüchternem Begreifen, So zitternd trägt ihr Blümlein deine Hand Und wagt es kaum, den zarten Schmelz zu streifen.   Ein goldnes Schlüss’lein, das dein Herz erschließt, Ein lebend…

Anno Domini 1933

    Er hielt an einer Straßenecke. Bald wuchs um ihn die Menschenhecke.   Sein Bart war schwarz, sein Haar war schlicht. Ein großes östliches Gesicht,   Doch schwer und wie erschöpft von Leid. Ein härenes verschollnes Kleid.   Er…

Lyrik als Seismograph an der Epochenschwelle

Die Lyra galt im antiken Griechenland als Erfindung des Hermes, der sie seinem Götterbruder Apollon als Entschädigung für seinen Rinderdiebstahl übergab. Im Hellenismus war sie ein Symbol der Dichter und Denker, woraus sich später der Begriff Lyrik entwickelte. Reden wir…