Schlagwort: Ulrich Bergmann

Vom Überbau der Freiheit

„Seht ihr nicht, wie ihr einander zerfleischt in Unbedachtheit eures Sinnes?“, fragt der historisch verbürgte Empedokles in seiner Fragmentsammlung katharmoi, den sogenannten Sühneliedern, und Hölderlin greift diese fragende Figur auf und macht aus Empedokles den „Denker des anderen Anfangs“ (Martin…

Pyrrhus-Sieg

  Komm!, sagt Schlange, wir machen Liebe. – Lass mich, Schlange, sage ich, ich denke nach. – Was ist los, sagt Schlange, worüber denkst du nach? –  Über unsere polygame Neigung, sage ich. – Ich wusste es!, sagt Schlange. –…

Die Lyrikerin Ines Hagemeyer

  Ines Hagemeyers ist in der Hauptsache Lyrikerin. Sie veröffentlichte im Dichtungsring nur selten andere Texte, etwa eine Rezension oder ein persönliches Statement zur Zukunft unserer Zeitschrift. Der Dichtungsring ist für sie eine wichtige Sache, sowohl die Autorengruppe als auch…

EX ORIENTE LUX

Gedanken zu Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“- Ein immer noch aktuelles Manifest für Mündigkeit, Vernunft und Freiheit Ein großer Roman! Schon der Umfang verrät es – vier Romane in einem: Die Geschichten Jaakobs / Der junge Joseph /…

Herzblut

M. filmte die Tötung mit einer auf einem Stativ montierten Videokamera. Die Aufzeichnung zeigt, wie er die Halsschlagader aufschlitzte. Das Blut spritzte im Strahl heraus. Der Puls stand in die Luft geschrieben. Als wollte der Körper Nein sagen, als die…

Randzone des Literaturbetriebs

In der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens entdecken. Walter Benjamin Das Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) hat sich nach 1989 von der Illusion der Kanongültigkeit verabschiedet. Das Interesse an Individuen, am Besonderen und Abweichenden, an Grenzgängern und ihren Umwegen ist…

Blindes Urteil

Die maltesische Eisläuferin Maria Cassata, die wegen ihrer hohen Sprünge und schnellen Drehungen auf dem Eis vom Publikum gefeiert, von der Jury aber stets gefürchtet war, weil keiner hinter das Geheimnis ihrer Kunst kam – während ihres Fluges über dem…

Eiszeit

Die Kölner Haie, die von ihren Fans manchmal auch liebevoll Eismörder genannt werden, weil sie in ihren Kampfspielen regelmäßig ein gutes Dutzend Pucks zerhauen – so hart schlagen die dick verpackten Raubtiere zu – trafen eines Tages in einem eiskalten…

Das Manifest

An einem 9. November in den letzten Jahren der deutschen Republik verschlang Kautsky, der die Welt besser verstehen wollte, als sie war, ein immer schon erträumtes Buch, das ihm, weil sich der Tag mit langen Gedanken hinzog, so schwer im…

Der letzte Weg

Der griechische Gewichtheber Kounellis, der vor der gesamten Weltelite der Kraftdisziplinen bei dem leichtfertigen Versuch, den Diskuswerfer, eine antike Bronzestatue im Museo Nazionale Napoli, vom Marmorsockel zu stoßen und zum Ruhme des Sports über sein Haupt zu reißen, starb, weil…

Im Tunnel

Der Zug aus Paris surrte mit irrem Tempo über die singenden Gleise auf den Tunnel zu, der die Kontinente tief unter dem Wasser des Meeres verband, da ging plötzlich der Mond auf, der an diesem Tag ins Metall der Schienen…

Terres

Verblutung. Wer an das Göttliche glaubt, glaubt doch nur an sich selbst, sagt Terres, der Orgler, der Glasperlenspieler und Komponist des Selbstgesangs. Im Herbst war die neue Orgel fertig, gebaut nach seinen Plänen. Eine Orgel ist eigentlich nie groß genug,…

Ansprache an die Wörter

Für Franca Ricinski   Ihr, keine Bräute, sondern Nutten und Engel, die ich mit Haut und Haar bezahle, mit meinem aufs Ganze gegangenen Leben. Mit den Fingern klopfe ich euch ab, Zeichen für Zeichen, bis ich euch spüre und lebendig…

Totes Rennen

„In geschnittenen Blumen lebt die Natur aus der Kunst. Man kann fast dasselbe über Gesichter sagen“, sagte Bellini, der Rennfahrer, als er vor dem Grand Prix in Monza der Tänzerin Dora de la Rosa, die er über alles liebte, eine…

Frühlingsdämmerung

  Im Morgenschlaf halb unbewusst halb wach hör ich von überall der Vögel Zwitschern nach tiefer Nacht als Sturm den Regen peitschte Wieviele Blüten fielen weiß ich nicht Auf Reime habe ich in der Übersetzung der „Frühlingsdämmerung“ von Meng Haoran…

Runner’s World

Boom, der letzte Philosoph unter den Langstreckenläufern („Training ist nichts anderes als die Fortsetzung des Dopings mit anderen Mitteln“), der sein Training, als er seinen Altersstil erreichte, selbst in die Hand nahm, was in den Augen der Fachwelt nicht nur…

Touch Down

Einem der gefürchtetsten Quarterbacks der Yellow Tigers unterlief, als sein Team unter allen Umständen den Sieg zum Klassenerhalt benötigte, der eklatante Irrtum, dass er, weil er den Ball in einem Knäuel von sieben Kämpfern vermutete, blindlings mit beiden Armen, Form…

Das letzte Spiel

Kahn, der schnellste Torwart der Welt, sprang im Finale von Yokohama, als er in der letzten Spielminute einen besonders kalt herausgespielten Schuss des Brasilianers Ronaldo abwehren musste, so heftig in die Blickrichtung des Sturmtänzers (ein Hecht schoss durch die Luft),…

Track ’n Field

  Den Athleten, die in die letzte Runde des Zehntausendmeterlaufs eingeläutet wurden, blieb, als ein Streckenwärter in der Zielgeraden plötzlich den Feuerlöscher auf die an der Spitze liegenden Läufer hielt, die Luft weg, die sie dringend brauchten um den Sturmlauf…

Die Lösung

An einem der letzten Julitage kurz vor den Großen Ferien gingen sie wieder in die Stadt, um die finale Aktion zu realisieren, STOP THIEF! Sie filmten mit drei Videokameras. Den Zusammenschnitt wollte Julian, ein Freund Isabels, der an der Filmhochschule…

Tour de Trance

Es begab sich in dem Jahr, als zum ersten Mal eine Etappe der Tour de France zu Ehren der Statue of Liberty, die Frankreich vor 125 Jahren den Vereinigten Staaten von Amerika schenkte, durch New York gefahren wurde. Der lebenslustigen…

Gingko

Die Stille, die eintrat, als die Sumoringer zum letzten Kampf in der Kokugi-Halle erschienen, fror jede Bewegung ein – das Licht der Scheinwerfer strahlte auf einmal noch greller und schimmernder, auf den vier großen Bildschirmen, auf denen der Kampf aller…

Homerun

  Die outfielders trauten ihren Augen nicht, als sie sahen, wie der batter mit rollenden Augen den Ball, den der pitcher auf ihn warf, bannte, indem er den schweren Schläger wie einen rasenden Propellerflügel auf den Ball drosch, der genau…

Bumerang

Das einzige Tor fiel in der letzten Sekunde. Als der Zauberer noch einmal ins Eis stieg, wurde es totenstill. Die Luft über der weißen Fläche kochte, die Haut der Arena blähte auf, bis der Himmel über den Köpfen platzte. Tausende…

Hang Time

Der Stürmer, der den Ball hatte und ihn bis zu den gegnerischen Verteidigern, die in die Höhe sprangen um den Korbwurf zu verhindern, dribbelte, sprang auf die Füße seines Mitstürmers, der mit hochgestreckten Beinen auf dem Rücken liegend den auf…

Verrannt

Als der Kraftmensch mit dem langen Stab aus Fiberglas auf die Piste lief um über die Latte zu springen, sah die schöne Frau, die es liebte, wenn Männer für sie in die Luft gingen, obwohl sie die Stabilität ihrer Seele…

Hornissen

Ein junger Alligator, den ein von seiner Ehefrau getrennt lebender Mann in eine Holzkiste packte, um ihr per Post das Reptil, mit dem er sie in Anspielung auf ihre Neigung, im heftigen Zank nicht nur mit Worten zu beißen, sondern…

Häutung

Die Pariser Modemacher litten immer schmerzlicher unter der Konkurrenz, mit der sie sich gegenseitig erdrückten. Der Kampf ums Überleben zwang auch die erfolgreichsten Couturiers unter ihnen zu den kühnsten Ideen, denn der Markt der zweiten Haut, der ihnen schon so…

Nachtschaum

Tom wachte auf, ging ins Bad, die Sonne entzündete die weißen Kacheln. Die Wände blendeten den jungen Mann. Ich habe Angst vor dem Unsichtbaren, das mich im Raum bedroht. Ich wache auf, aber nicht richtig, nicht ganz. Ich stehe auf…

Nikotin

23:19 Marc stand mit hängenden Armen vor dem kräftigen Mann und grinste ihn herausfordernd an. „Haste Zigaretten…?“ Der steckte die rechte Hand in die Hosentasche. „Nein.“ Jannis und Luk rückten von links und rechts nah an den Mann ran. „Ich…

Wundprotokolle ∙ Revisited

  Die Wundprotokolle sind für mich ein großer Wurf deutscher Dichtung dieser Jahre! Die Sprache fließt leicht und abwechslungsreich, spielt mit den literarischen Gattungen (von der Kurzgeschichte über die Parabel bis zur visuellen Poesie), mit Erzählperspektiven, Bildern und idiomatischen Wendungen…

Verspielt

  Es wird so dunkel, sagt Arthur, das macht mich ganz traurig. Ich bin auch ganz traurig, sagt Schlange, der Winter dringt immer tiefer in unser Leben ein. Manchmal zieht ein Schmerz in meine Seele, sagt Arthur, ich liege im…

Der eiserne Vorhang

Wenn ich träumte, fiel ich aus dem Zeitlupentempo meines wachen Lebens. In den rasenden Bildern der Nacht überholte ich mich, man kann sagen, am Ende meines Traums stand ich am Ziel und wartete auf mich selbst, und dann sah ich…

Schläuchmaschin

„Drei Tage später drangen spielende Kinder in das Schwimmbad ein und fanden die Schnapsleichen auf dem Betonboden des tiefen Beckens, die Augen ins Blut gerollt. Bei einem der drei Männer steckte das Mundstück der Schläuchmaschin im zerschmetterten Kopf.“ (4. Mai)…

Standing Ovations

Es war ein heißer Sommertag, die Sonne schmolz das letzte Eis zwischen den Gedanken, die Rudnikow hin und her schob. Nach dem Untergang der Sowjetunion war er nach Sankt Petersburg gereist. Leningrad, dachte Rudnikow. Bin ich nun in Leningrad oder…

Tacheles

Am Donnerstag Abend der letzten Woche lief plötzlich eine junge Frau in die Räume der Künstlergruppe Beautiful Factory im dritten Stockwerk der Halbruine Tacheles, schrie: „Ich mache Schluss!“ und zerschnitt Jan West, spoken word artist aus Neukölln, der gerade mit…

Re: Matrix

  Frank Steigenberger, Sektierer mitten unter uns, nahm den Film Matrix ganz ernst. Er glaubte, er stecke in der Matrix, versklavt von Computern, die die Weltherrschaft an sich gerissen haben. Frank glaubte, er sei Teil eines Programms. Über seinem Bett…

Mohnasche

Als sich die Blüten des Mohns lösten, rissen die Wolken. Starke atlantische Winde trugen die roten Flügelsterne in die strategische Höhe, schoben sie vor die Sonne und färbten die Luft, die plötzlich zitterte und tropfte. Ein kahler Wald von dünnen…

Nachtgas

Am Abend eines schweren Sommertages dachte Kautsky, während er im Café Pathos einen Espresso trank, immer wieder an den Fall des Magdeburger Geldverleihers Max Glaser, der allein unter dem Dach eines Hochhauses mitten in der grauen Stadt lebte. Kautsky, der…

Das eherne Zeitalter

– Sterben üben, dachte Kautsky, als er an einem dunkleren Tag seines Alltagslebens das Museum betrat, in dem er die Bilder alle schon auswendig kannte. Kenne ich mich denn so gut wie diese Bilder?, fragte er sich. Ich sehe immer…

Café Pathos

„Hier geht’s runter, Sie werden erwartet“, sagte Ortmann, der Regisseur, zu dem einzigen Zuschauer, der an einem Sommerabend im letzten Jahr des letzten Jahrtausends das Stück eines Schauspielers erleben wollte, das nur für einen einzigen Zuschauer gedacht war. Kautsky hatte…

Poetry Slam

Kautsky stellte sich vor, wie sie kleine Plastikeimer mit Glasscherben austeilten. Die Girls kletterten in den Ring und rissen ihm das Hemd vom nassen Leib. Dann flogen die Scherben durch die Luft. Er brach zusammen. Der Saal zählte ihn aus.…

Kronos IV

Der Raum ist schwarz. Langsam fließt Blau steil hinab, tiefblau, hellblau, zartblau angestrichene Strahlen von Licht. Flirrende Töne fließen mit, sie schwellen an und füllen den Raum so laut, dass die Farben zittern, dann wird es leise. Trommelndes Summen schwingt…

Stangerbad

Es war die erste Nacht nach der Operation. Ich konnte nicht einschlafen. Trotz aller Mattheit war ich aufgeregt und neugierig darauf, wie ich aussehe, wenn alle Wunden verheilt sind. Aber jetzt war alles verbunden, der Kopf, der Hals, die Brust,…

Menschenmehl

Ich betrat die Apotheke, weil mich zwei feine Pulver im Schaufenster neugierig gemacht hatten. Die kleinen Kegel aus fein gemahlener Substanz, auf die Rückseite geöffneter Briefumschläge geschaufelt, schimmerten schwarzrot und elfenbeingrau. An der Stelle des Absenders waren gespreizte Frauenbeine zu…

Ramsch

Am 10. Januar nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Chicken hatte das Bootshaus des Rudervereins als Treffpunkt vorgeschlagen. Trick und Scha waren einverstanden. Heute war Freitag, morgen frei, Sonntag frei, bis Montag hatten sie sich bestimmt vom Kampf erholt. Am Montag…

Der Schlingentisch

„Es ist eine eigentümliche Anlage!“, sagte der Cheftherapeut, als wir den fensterlosen Raum betraten. Er schaltete das Licht an.  „Jedenfalls denkt das jeder, wenn er sie zum ersten Mal sieht.“ Er schaute hoch zu dem Tisch, der mit seinen vier…

Lyrische Destillationen

  Jahrelang hat sich Holger Benkel mit Tiersymbolik beschäftigt. Dabei spielte, nicht nur anfangs, Brehms Tierleben eine große Rolle. Auf mehreren Hundert Seiten versuchte er, eine Kulturgeschichte der Vögel und Insekten und ihrer Mythen zu schreiben. Später aber gab es…

Lesen, eine aussterbende Kulturtechnik

Der moderne Flaneur sitzt vor dem Bildschirm. Ihn schlägt nicht weniger als die Welt in ihren Bann. Bilder und Wörter halten ihn gefangen… Wie Goethes dichterisches Ich schlendert der Flaneur im Internet ’so für sich hin‘ und lässt die Gedanken,…

Visuelle Wortmusik

  Wie sähe Poesie aus, in der alles sich verbindet: Eine Art visuelle Wortmusik? (Die Idee des Gesamtkunstwerks auf minimalistischer Ebene.)   „Medienkombination“ nennt die Deutsche Nationalbibliothek ein Werk, das sich nicht auf den ersten Blick zuordnen läßt. Literatur findet…

Minimalistische Kabinettprosa

Auch die Fiktion ist Teil meiner Autobiographie. Philip Roth Ulrich Bergmanns vielgestaltiges Werk reicht von Begegnungen, intensiven Alltagsbeobachtungen, glossierenden Zeitgeistbetrachtungen über die Wiederbelebung historischer Figuren bis zum weltläufigen Erzählen. Dieser Autor baut seine Bücher häufig aus lose verknüpften, in sich…

Elektronische Post

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Die Redaktion weist daher gern auf den elektronischen Briefwechsel zwischen Wolfgang Kubin und Ulrich Bergmann hin, den der…

Literarische Zeitdiagnostik zum Werteverfall der Gesellschaft

Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt. Zwei Romane sind der Anlass für ein Kollegengespräch von Ulrich Bergmann und A.J. Weigoni. Mannigfach sind die Bezüge,…

Conditio sine qua non

  Schlange, sage ich, ich liebe dich, ich will mit dir zusammenleben. – Ich auch, sagt Schlange, ich liebe dich auch. – Wo ziehen wir hin?, sage ich, zu dir will ich nicht. – Zu dir will ich auch nicht,…

Worte aufschichten wie Holzscheite

Über den 1-maligen Dichter Arthur Breinlinger Arthur Breinlinger ist Maler, Dichter und Lehrer. 1943 wurde er in Minden geboren. Der Vater war Offizier. Breinlinger wuchs in Ulm auf. Lebenslang Fan des SSV Ulm, reist er zu den meisten Spielen und,…

Vice versa

  Als ich mir die große Baselitz-Ausstellung ansehe, stelle ich mir vor, Schlange wäre wieder bei mir, und ich male mir aus, was sie mich beim Anschauen der Bilder fragen würde. Mir gefällt Baselitz immer besser, würde ich sagen. –…

Drive in

Ich habe es eilig. Ich will pünktlich zu meiner Verabredung kommen. Aber wohin? Ich weiß nicht mehr den Weg. Ich setze mich ins Auto und fahre nach Hause. Hast du vergessen, wo du hin willst? Nein, ich will mich besuchen,…

Durchschnittlich schön

Im Widerspruch zur allgemeinen Meinung sage ich, sagt Arthur, die wahre Schönheit liegt im reinen Durchschnitt. Dann sind also die meisten Leute schön?, sage ich. Wo denkst du hin!, sagt Arthur. Der reine Durchschnitt ist genauso selten wie extreme Hässlichkeit.…

Narrenmode

Manchmal, sagt Arthur, denke ich, ich bin ein Modell für viele. Etwa in Modefragen?, frage ich. Gute Frage!, sagt er. Alle sagen, was ich denke, obwohl ich nie denke, was alle sagen. Das spricht für dich, sage ich. Ich weiß…

Wanderseelen

Ich denke manchmal, sagt Arthur, mit Schrecken, ich wache auf in einem anderen. Vielleicht wachen wir täglich, sage ich, immer woanders auf, wer weiß. Komisch, sagt Arthur, aber jedes Mal, wenn ich so aufwache, treffe ich dich. Du kannst nicht…

Zeitnot

Es geht immer um Minuten, nie um Stunden, sagt Arthur, als wir das Theater verlassen. Wenn es um Stunden ginge, wäre alles schon zu spät – oder zu früh, sagt Arthur. Arthur, ich versteh kein Wort, du redest bestimmt wieder…

Definitionssachen

Arthur, sage ich, wir werden immer schwieriger. Du wirst schwieriger, sagt Arthur, deine Leichtigkeit war das Fundament unserer Freundschaft. Arthur, sage ich, du definierst dich doch nicht über mich! Nein nein, sagt Arthur, ich definier mich schon selbst! Aber damit…

Vollkommen unvollkommen

Die Welt ist unvollkommen, sagt Arthur, Godard sagt, das Leben sei ohnehin nur ein schlecht gemachter Film. Er will das Leben besser konstruieren, wenigstens im Film, sage ich, aber mich interessiert, ob ich mein Leben in meinem Leben besser konstruieren…

Konsequent inkonsequent

Godard, sagt Arthur, hat eine Podiumsdiskussion während der Filmfestspiele in Cannes mit den Worten beendet: Wir streiten hier über die Kunst des Filmschnitts, und draußen läuft die Revolution! Was wollte er damit sagen?, sage ich. Ich glaube, sagt Arthur, die…

Gefragte Antworten

Ist der Text umgekippt , sagt Arthur, oder liegt der Himmel am Boden, beschreibe ich mein Bild, oder beschreibt das Bild mich, bin ich aus dem Bild gefallen, oder ausgebrochen in die Freiheit der Leere, oder ist das Bild aus…

Freier Fall

Das Leben, sage ich, ist eine dunkle Kammer mit zwei Türen. Ein Zimmer hat eine Tür und ein Fenster, sagt Arthur, zur Tür kam ich rein, zum Fenster hinaus geht mein Blick. Kannst du, sage ich, die Schwärze deiner Aussicht…

Vita omnis mortis hora

  Arthur liest die Zeitung gern. Melancholie ist täglich Ziel und Ausgang seiner Sucht nach schweren Katastrophen, die ihn trösten, wenn er unter Schmerzen seiner Seele neues Leben findet. Sein Lebensthema ist der Tod, in allen Varianten liest er, was…

Arthuresk

Du siehst alles zu arthuristisch, sage ich. Das liegt an meiner Arthurität, sagt Arthur, aber arthuretisch hast du Recht. Arthur, ist das nicht arthuriotisch?, sage ich. Arthürlich!, sagt Arthur.   *** Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann. KUNO 2018. Als intensiver Beobachter verfügt…

Das Original und die Fälschung

  Das Original ist eine reine Fiktion, sagt Arthur, im Grunde sind wir alle nur Kopien. Es ist doch kein Mensch wie der andere, sage ich, jeder von uns ist ein Unikat. Das glauben wir, sagt Arthur. Wir sind nur…

Heißkalt

In seinem Kastell verbarg ein katalanischer Maler seine Heizung hinter einer Art Geheimtür, auf der eben diese Heizung gemalt war – eine schöne Idee, finde ich, die Wirklichkeit zu überhöhen, sagt Arthur. Wieso? Heizt das Bild besser als die Wirklichkeit?,…

s.t.

  Immer wenn ich in die Kunsthalle gehe, finde ich meinen Weg wie eine Brieftaube, aber wenn ich meinen Kunsttempel verlasse, verliere ich die Orientierung. Du stehst eben nicht richtig im Leben, du weißt nicht, wo es lang geht. Ich…

Das lyrische Gesamtwerk

Der vordere Buchdeckel ist mit einem original Holzschnitt bedruckt. Vielleicht liegt ja in solcher Art Gestaltung eine Zukunft des Buches angesichts der digitalen Möglichkeiten. Das Buch als Objekt. Jan Kuhlbrodt Arthur Rimbaud konnte – in einem emphatischen Sinn – noch…

THERMOPLASTISCHE TEXTE

Eine Gebrauchsanweisung zum Verständnis gegenwärtiger Dichtung am Beispiel von „istanbul. eine matrjoschka“ von Dennis Mizioch LÖCHER IM POLYPROPYLENGEWEBE lautet der neueste Titel der zentralrheinischen Literaturzeitschrift mit dem doppelzüngigen Namen Dichtungsring. Michael Kohl, Herausgeber zusammen mit Werner Pelzer, schreibt im Editorial:…

Trophäe

  Was ist ein Dichter? Ein Dichter, sagt Arthur, demaskiert die Wahrheit. Was ist die Wahrheit? Schau her, sagt Arthur, meine Hand ist ein Messer, das schreibt. Du schreibst deinen Kopf ab!, sage ich. Das tun alle Dichter, sagt Arthur.…

Hunger ist der beste Koch

Der Dichter kann seine Worte nicht essen, er kocht die neuen Worte nach alten Rezepten, die alten nach neuen, und er denkt sich nur, wie die Worte gegessen werden, man kann auch sagen, er ist selbst das Rezept, denn letztlich…

Es muss sein

Wir müssten zwei Leben haben, sage ich, dann könnten wir leichter sterben. Gut, sagt Arthur, wenn wir uns im zweiten Leben an das erste erinnern können. Wir hätten, sage ich, in unserem ersten Leben das zweite nur geprobt? Nein, sagt…

Todsicheres Leben

  Ich habe mir eine Lebensversicherung aufschwatzen lassen, sagt Arthur. Dann kannst du leichter sterben, sage ich. Nein, sagt Arthur, ich lebe leichter. Wieso, sage ich, ist dein Leben nun sicherer geworden? Nein, sagt Arthur, mein Tod. Da machst du…

Geschichtenschreiben

Die Geschichten dieser Welt sind geschrieben und müssen trotzdem immer wieder geschrieben werden, nicht weil wir neue Geschichten brauchen. Sie müssen geschrieben werden, damit die Tradition des Erzählens, des Geschichtenschreibens nicht ausstirbt. Peter Bichsel   The future is female, lautet…

Die Würfelfalle

I Gestern dachte ich, sagt Arthur, ich bin Schrödingers Katze. Ich dachte, das Leben ist ein ganz besonderes Gift, ich sah mich mal lebendig, mal tot. Und als ich aufhörte nach mir zu sehen, kam mir alles noch viel komischer…

Galgenstück

Mir träumten die Tische, sagt Arthur, meine ganze Wohnung ist ein Trödelmarkt! Ich ging von Tisch zu Tisch mit lauter Kram und Plunder. Auf einmal sehe ich eine Gliederpuppe, an feinen Fäden hängt ein riesiges Gehirn aus Hunderten von kleinen…

Satzbauten

  Kann ich sagen, sage ich, ich sterbe, also bin ich? Ich weiß nicht, sagt Arthur, das klingt mir zu verspielt. Ich sage, das ganze Leben ist verspielt, sage ich. Ja, sagt Arthur, wer durch Sterben etwas werden will, will…

der kleine prinz auf seinem ich-planeten

oder die kunst der narzißtischen selbstkritik zum roman »Gionos Lächeln« von ulrich bergmann ulrich bergmanns roman, der verschiedene zeitebenen miteinander verschränkt, ist ein rückblick auf kindheit und jugend, die teils traumartig auftauchen, größenphantasien inbegriffen, die meisten träume sind narzißtisch, ja…

Über alle Gipfel

  Mein Leben, sagt Arthur, gleicht einem steilen Berg, auf den ich ohne Seil und Sicherung hochklettere. Je höher ich komme, umso größer wird mein Schwindel, immer klarer wird mir: Ich besteige mich selbst. Endlich oben, sage ich mir: Also…

Trinke mich satt!

  Ich sah, sagt Arthur, gestern ein junges Weib mit einer kleinen Aster im weißen Ausschnitt. Der Duft klingt mir noch im Ohr, ich fühle unter meiner Stirn, wie die Blütenblätter wippen. Eine weiße Blume auf weißer Haut!, dachte ich…

Ich sage nichts,

  denke ich, er, immer er, er alles, ich nichts, er antwortet ich frage, immer Frage ich Antwort er, Scheinfragen, Scheinantworten, halbe Fragen, also keine, sage ich, keine Antwort keine Frage, denke ich, immer denken und denken, Denken denken, immer…

Challenge and response

Ich denke, das ganze Leben ist ein Frage-Antwort-Spiel, sagt Arthur. Die Antworten hängen immer von den Fragen ab, sage ich. Oder die Fragen von den Antworten, sagt Arthur. Das ist die Frage, sage ich. Aber das ist keine Antwort, sagt…

Vorhang zu

Was ist das Leben?, frage ich Arthur nach dem Theater, als wir unter die dunklen Wolken ins Freie treten. Ich habe keinen Regenschirm dabei, sagt er, wie immer, ich nehme das Wetter wie es kommt, wie ich auch die Theaterstücke…

O Fortuna

Ich habe neulich, sage ich zu Arthur, nachgedacht wie du. Ich sah die Welt als Jahrmarkt, und ich sah den Jahrmarkt wie die Welt. Ich bin gespannt, sagt Arthur, wie du dir antwortest – denn das müsste Ähnlichkeit haben mit…